Die Realschule ist keine Restschule!

erschienen in: Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz, 15.08.2016, 16

 

 Sie tun ihr Bestes und versuchen unentwegt, ihren Schülern nicht die Schwächen vorzuhalten, sondern ihnen aufzuzeigen, dass sie auch Stärken haben. Diese schwierige Aufgabe meistern Realschullehrkräfte jeden Tag. Am letzten Aarauer Maienzug habe ich mich nicht nur amüsiert, sondern auch in dieser Hinsicht viel gelernt, und zwar von einer Kollegin, die seit Jahren an einer Realschule tätig ist. Auch Rückmeldungen anderer Lehrkräfte auf meine Kolumnen bestätigen mich in meiner Überzeugung: Die Realschule ist keine Restschule, und sie darf es nicht werden!

Der erste Schultag nach den Sommerferien ist für die neuen Realschülerinnen und Realschüler besonders schlimm. Aus der Primarschule kommen sie mit dem Bewusstsein als individuelle Versager, die nun zur untersten Ausbildungskategorie gehören. Ihr Selbstbewusstsein ist im Eimer, umso grösser jedoch ihre negative Schuleinstellung, Es dauert mehrere Wochen, bis sie wieder ein wenig Selbstvertrauen gefasst haben und beginnen, an sich zu glauben.

Auch in unserer Gesellschaft hat die Realschule eine geringe Akzeptanz. Sie gilt nicht mehr als Schule für eine breitere Bevölkerungsgruppe, sondern vor allem als eine für Problemfälle. Tatsächlich stammen Realschülerinnen und Realschüler überzufällig oft aus Familien mit niedrigen Bildungsabschlüssen, ohne regelmässige Arbeit, und nicht selten tragen sie auch Risikofaktoren (Alkohol-, Drogen-, Gewaltprobleme) auf sich. Dies hat dazu geführt, dass Realschüler häufig als «Kellerkinder» wahrgenommen werden. Das ist verheerend, denn hinter nicht wenigen von ihnen steckt ein grosses Potenzial. So sprechen die Daten der PISA-Studie eine klare Sprache, verweisen sie doch auf eine deutliche Überschneidung zwischen Realschülern und Bezirksschülern gerade in den mathematischen Fähigkeiten. Auch die Begabungsforschung betont immer wieder, dass in der Realschule relativ oft begabte Schülerinnen und Schüler sitzen, deren eigentliche Probleme in sprachlichen Defiziten oder in einer Legasthenie liegen.

Andererseits haben Gymnasiasten auffallend oft lediglich durchschnittliche oder sogar unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten. Meine ETH-Kollegin Elsbeth Stern weist in ihrer Studie darauf hin, dass im Gymnasium neben den traditionell intelligenten und akademisch interessierten Schülern auch solche mit an sich eher schwachen kognitiven Fähigkeiten sitzen, die aber vom Elternhaus und eingekaufter Lernunterstützung so präpariert werden, dass sie den Anforderungen genügen. Dies sind einschneidende Hinweise dafür, dass in unserem Land die soziale Herkunft nach wie vor den Schulerfolg bestimmt.

Leider verstärken viele Betriebe diese Tatsache. Wegen des Trends zum Gymnasium und zu höheren Schulabschlüssen nehmen sie Realschüler zunehmend als minderwertige Kategorie wahr. So ist die Überzeugung weit verbreitet, ihre Voraussetzungen würden nicht ausreichen, um eine Berufslehre erfolgreich zu absolvieren. Deshalb geben viele Betriebe solchen Jugendlichen gar keine Chance, sich im Bewerbungsprozess überhaupt präsentieren zu können. Und dies unabhängig davon, ob sie die beruflichen Anforderungen für eine Lehre im entsprechenden Segment erfüllen würden oder nicht.

Solche Überzeugungen haben in den heutigen Zeiten des Lehrlingsmangels ungünstige Auswirkungen auf die Berufsbildung. Weil in nächster Zeit kaum eine Trendwende in Sicht ist, wird sich das duale System verändern und den Realschülern verstärkt öffnen müssen – einer Klientel, die es bisher eher gemieden hat. Falsche wäre zumindest, einfach Lehrlinge aus dem Ausland zu holen.

Es gibt auch eine erfreuliche Nachricht: Realschülerinnen und Realschüler erzielen überdurchschnittlich oft sehr gute Lehrabschlussprüfungen, obwohl sie in der obligatorischen Schule schlechte Schüler gewesen waren und häufig eine Klasse hatten wiederholen müssen. Diese Ergebnisse einer unserer Längsschnittstudien sind ein weiterer Beleg für die Forderung nach einem Perspektivenwechsel der Berufsbildung. Die Berufslehre könnte für Realschüler zur zweiten Chance werden, wenn Betriebe Schulniveau, Noten und Klassenwiederholungen weniger stark gewichten. Mit Sicherheit würden sie vom Erfolg solcher Lehrlinge nicht selten überrascht.

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