Ich selbst gehöre zu denjenigen, die einmal Nachhilfe, gekriegt haben und zwar in Mathematik unmittelbar vor der Aufnahmeprüfungen ins damalige Lehrerseminar. Und Sie? Verschiedene von Ihnen müssten diese Frage eigentlich mit ja beantworten können. Denn laut Statistik bekommen etwa drei von 10 Jugendlichen Nachhilfe. Zu diesem Schluss sind zwei neue Studien von Stefanie Hof und Stefan Wolter (2012*) sowie von Hans-Ulrich Grunder (2013**) gekommen. Offenbar reicht der normale Unterricht für viele Schulkinder nicht aus, weil sie von unserem Bildungssystem überfordert werden. Das stimmt allerdings nicht ganz, denn erstaunlicherweise stecken meist nicht etwa eine drohende Klassenwiederholung und schlechte Schulnoten dahinter. Vielmehr geht es oft um prophylaktische Massnahmen, um eine Art Lerndoping ehrgeiziger Eltern, welche auf diese Weise die Schulnoten ihrer Kinder optimieren und ihnen Wettbewerbsvorteile verschaffen wollen, damit sie im Konkurrenzkampf bestehen respektive die Aufnahmeprüfung ins oder den Verbleib im Gymnasium schaffen.

Dabei ist die Bandbreite an Angeboten enorm: Vom klassischen Studenten als Nachhilfe-Lehrer für Primarschüler über Lernstudios als Vorbereitungsort für die Gymi-Aufnahmeprüfung oder dem neuen online-Angebot «Teachpoint»*** bis zum äusserst beliebten «Repetitorium» an Universitäten und Fachhochschulen gibt es alles. Prüfungen bestehen und Notenoptimierung ist überall das Stichwort. Nachhilfe ist deshalb ein Millionengeschäft in einem hart umkämpften Markt geworden. Deshalb müssen sich die Anbieter etwas einfallen lassen. Strategien wie «Geld-zurück-Garantie» oder «All inclusive» sind nur zwei der vielen Werbemittel. Eine Erfolgsgarantie gibt es aber eigentlich gar nicht. Denn zentral sind die Motivation des Kindes und die didaktischen Fähigkeiten der Nachhilfe-Lehrkraft.

Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass Kinder und Jugendliche in der Regel den Nachhilfeunterricht gern haben und die Lehrkräfte dort sehr schätzen. Dies ist erstaunlich, müssen sie doch zusätzlich und in der kostbaren Freizeit für schulische Dinge antraben. Einer der Hauptgründe dürfte darin liegen, dass viele Kinder auf die Ziele ihrer Eltern stark eingespurt sind und sich deshalb nicht getrauen zu rebellieren. Dass die Rebellion oft erst später kommt, zeigt unsere Studie «Zu cool für die Schule?» (Stamm, 2013****).

An sich sind die verschiedenen Formen von Lerndoping natürlich nicht weiter schlimm. Nachhilfe ist per se nicht schädlich. Und im Hochschulbereich ist sie eigentlich eine logische Folge des Bologna-Systems, das ab dem ersten Tag des Studiums in jeder Vorlesung und in jedem Seminar auf Noten und Prüfungen setzt, die zu bestehen sind, damit das Studium fortgesetzt werden kann. Mit Blick auf das obligatorische Schulsystem jedoch erachte ich zwei Dinge als problematisch:

Ohne das Parallelsystem des Lerndopings würden viele Kinder den Weg ins Gymnasium gar nicht schaffen oder nach kurzer Zeit wieder aufgrund ungenügender Noten wieder austreten müssen. Nicht wenige von ihnen sind deshalb «Overachiever», d.h. Mädchen und Knaben, die deutlich bessere Leistungen erbringen als dies aufgrund ihrer Intelligenz zu erwarten wäre. Sie sind extrem fleissig, werden intensiv unterstützt und oft auch fälschlicherweise als hochbegabt eingeschätzt.

Insgesamt sollten wir über die Bücher gehen. Es kann nicht sein, dass neben dem Schulsystem heimliche Parallelsysteme entstehen, die vor allem den Privilegierten, aber vielleicht nicht einmal besonders Intelligenten, Vorteile verschaffen. Der Nachhilfemarkt darf nicht weiter ignoriert werden. Wir brauchen neue Initiativen. Nur dürften sie nicht in Richtung einer Verstaatlichung von Nachhilfe gehen, wie dies vor einiger Zeit von einem kantonalen Lehrerverband vorgeschlagen worden ist. Weil sich privilegierte Familien immer Vorteile verschaffen werden – und dies ja auch verständlich ist – geht es viel mehr darum, kompensatorische Nachhilfe- und Förderangebote zu schaffen, die sich ausschliesslich an ökonomisch benachteiligte Kinder und Jugendliche richten. Es gibt zwar wenige solche Leuchttürme, einen von ihnen kenne ich und kann ihn deshalb besonders empfehlen: das Projekt ChagALL des Instituts Unterstrass in Zürich.

 

Literatur

* Hof, S. & Wolter, S. C. (2012). Nachhilfe – Bezahlte ausserschulische Lernunterstützung in der Schweiz. Aarau:  SKBF Staff Paper 8.

** Grunder, H.-U. et al. (2013). Nachhilfe. Eine empirische Studie zum Nachhilfeunterricht in der deutschsprachigen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

***Hier kommen die virtuellen Lehrer. Tagesanzeiger, 17.05.2014; http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Hier-kommen-die-virtuellen-Lehrer/story/22480512

****Stamm, M. (2013). Zu cool für die Schule? Dossier 13/2. Bern: Swiss Institute for Educational Issues. http://www.margritstamm.ch/component/docman/cat_view/4-dossiers.html?Itemid=