Jeder kennt sie: die Schüler, die trotz hoher Begabung aufgrund schlechter Noten den Übertritt ins Gymnasium nicht schaffen oder keine anspruchsvolle Lehrstelle bekommen, Schülerinnen, die sich ohne Hausaufgaben zu erledigen mit knapp genügenden Noten über die Runden schlängeln oder Erwachsene, die trotz ihrer Begabung wenig anspruchsvolle Berufe ausüben oder gar ihre Ausbildung abbrechen. Und auch in der Fachliteratur werden nicht wenige begabte Menschen beschrieben, die in der Schule mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatten, dann jedoch ausgesprochen erfolgreiche Erwachsene wurden. In der Wissenschaft nennt man solche Menschen Minderleister. Das sind solche, die eine grosse Diskrepanz zwischen ihren intellektuellen Fähigkeiten und den tatsächlichen Leistungen zeigen.

Wer aber sind sie tatsächlich, diese Minderleister und was steckt hinter ihnen? Schon ein kurzer Blick in die Forschungsliteratur genügt, um zu erkennen, dass die Thematik kompliziert ist. Die Gründe für Minderleistung sind vielschichtig, und es gibt keinen Einzelfaktor, der sie beschreiben könnte. Dessen ungeachtet besteht vor allem in Erziehungsratgebern eine ausgesprochen deutliche Tendenz zu einem überakzentuierten verallgemeinernden Bild des Minderleisters.

Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich jedoch nur so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner als gesicherte Erkenntnis formulieren: Als primäre Ursachen lassen sich in erster Linie ein geringes Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, ein unsystematisches Lern- und Arbeitsverhalten, schlechte Motivation und ein geringes Durchhaltevermögen konstatieren, das häufig mit grosser Schulunlust gepaart ist. Des Weiteren ist die Familie von Minderleistern besonders bedeutsam. Bildungsambitionierte Familien können genauso Minderleister produzieren wie bildungsferne Familien und zwar wie folgt:

Logischerweise spielen Lehrerinnen und Lehrer eine wichtige Rolle. Denn professionaell agierende Lehrkräfte schalten mit ihrer Unterrichtsorganisation und einer hohen Unterrichtsqualität Minderleistungen massgeblich aus, zumindest können sie diese minimieren. Erkennbar sind solche Lehrerinnen und Lehrer daran, dass sie einen herausfordernden Unterricht erteilen, der sich an den Vorkenntnissen der Schüler orientiert und eine Beurteilungspraxis pflegen, welche auf die individuelle und nicht die soziale Bezugsnorm ausgerichtet ist. Solche Lehrkräfte können auch der Entstehung von Langeweile und damit von Minderleistung massgeblich begegnen. Trotzdem darf die Bedeutung der Schule nicht überschätzt werden, weil Gleichaltrige einen ebenso starken Einfluss ausüben. Probleme entstehen insbesondere dort, wo sich Minderleister eine ähnlich gesinnte Peer Group suchen, in der die Demonstration von Schuldistanz als statusfördernd gilt, aussergewöhnliche Leistungen jedoch verpönt und mit einem Strebervorwurf belegt werden. Was jedoch kann gegen Minderleistung unternommen werden?

Das ist eine schwierige und bislang kaum geklärte Frage. Eine ideale Strategie fehlt. Gleichwohl gibt es zwei Zugangswege, mit je unterschiedlichem Fokus: die Beratung und die instruktionale Intervention.

Das Phänomen der Minderleistung wirft viele Fragen auf, die auf unserer Verpflichtung basieren, jedem Menschen zur Entfaltung seines Potenzials zu verhelfen. Ziel sollte es sein, dass alle Schüler Leistungen erreichen können, die ihrem Potenzial entsprechen. Allerdings ist diese Aussage nicht über jeden Zweifel erhaben, denn sie ist auch mit ethischen Fragen verknüpft: Warum ist es eigentlich so wichtig in unserer Gesellschaft, das Potenzial auszuschöpfen? Sollen Schülerinnen und Schüler tatsächlich bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit unterrichtet werden? Und, garantiert ein ausgeschöpftes Leistungspotenzial dann auch eine Leistungssteigerung und einen gesellschaftlichen Gewinn, also berufliche Chancen, persönliche Befriedigung und soziale Einbettung? Sicher nicht. Denn die Folgen der Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte haben uns exemplarisch aufgezeigt, dass ein ausgeschöpftes Leistungspotenzial weder eine Garantie für die Teilnahme an der Verteilung der Arbeitsplätze ist noch den persönlichen Erfolg sichert.