Kürzlich habe ich in meinem Seminar "Identität und Vorbilder"  einen einfachen Leistungsnachweis für die Studierenden formuliert: einen in Bezug auf Grammatik und Rechtschreibung einwandfreien Text von anderthalb Seiten zu einem inhaltlich relevanten Seminarthema zu verfassen. Leistungsnachweise sind notwendig, um die erforderlichen Kreditpunkte (ECTS) gutgeschrieben zu bekommen. 1 ECTS wird mit 30 Arbeitsstunden gleichgesetzt, so dass die 3 ECTS meines Seminars 90 Arbeitsstunden erforderten.

Die Studierenden fanden diesen Leistungsnachweise eine coole Sache, ich auch. Jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Währendem sie wahrscheinlich in den lediglich 1.5 Seiten Text ein schnell zu erreichendes Ziel sahen, freute ich mich auf einwandfreie Arbeiten. Darin lag ja auch mein Ziel: die Studentinnen und Studenten für eine korrekte und sorgfältig genutzte Sprache zu sensibilisieren. Meine Rechnung ging jedoch kaum auf: 80% der Studierenden gelang es nicht, einen korrekten Text abzuliefern. Drei-, manchmal auch viermal, musste ich ihn zum Überarbeiten zurückweisen. Das eigentliche Problem bestand jedoch gar nicht darin, dass diese Studierenden Grammatik und Rechtschreibung schlecht beherrschten, sondern, dass sie vor allem auf die Uhr schauten. Genau dann, wenn die von ihnen errechnete Zeit, die sie für diesen Leistungsnachweis aufwenden wollten und sollten, abgelaufen war, beendeten sie die Arbeit und gaben mir diese im aktuellen Zustand ab. Durchlesen oder korrigieren lag dann eben nicht mehr drin. Mein Fazit: Die vorgeschriebene Norm ist wichtiger als der Inhalt. Daran sind jedoch weniger die Studierenden Schuld als das Bologna-System.

Um es klar zu stellen: Ich bin keine grundsätzliche Gegnerin des Bologna-Systems, habe jedoch deutliche Vorbehalte. Das Bologna-System hat viel Gutes gebracht, beispielsweise die Internationalisierung des Studiums, vor allem aber seine Zweiteilung in Bachelor und Master. Diese Zweiteilung ermöglicht, gezielt individuelle und der Neigung entsprechende Schwerpunkte zu setzen. Aber Bologna hat auch entscheidende Nachteile. Ich bin überzeugt, dass der Weg in Richtung Normierung, Formalisierung und Beschleunigung ein problematischer ist. Es ist bizarr, wenn vor allem die Kreditpunkte derart im Mittelpunkt stehen, dass sie die Studierenden zu dressieren vermögen. Wie soll man es ihnen verübeln, wenn sie angesichts solcher Tatsachen berechnen, wie viele ECTS ihnen noch bis zum Abschluss des Studiums fehlen und nicht, welche Inhalte es noch zu bearbeiten gilt?

Normierung und Formalisierung verlangen, dass nicht nur genaue Lernziele definiert und den Studierenden kommuniziert, sondern ihnen auch alle schriftlichen Unterlagen wie Vorlesungsskripte oder Seminarunterlagen zeitnah abgegeben werden müssen. Insgesamt hat diese masslose Normierung auch dazu geführt, von Studierenden immer seltener Texte selbständig formulieren lernen müssen oder dass immer weniger Zeit bleibt, um den Kerngedanken eines Textes zu erfassen und Kritik daran zu üben. Folgedessen überrascht kaum, dass Studierende, die in der Lage sind, eine Vorlesung in eigenen Worten angemessen zusammenfassen zu können, rar werden. Andererseits sind sie viel vifer als frühere Studierende, beispielsweise wenn es darum geht, einen Inhalt spontan zu erfassen und ins Gedächtnis aufzunehmen. Auch die Jargonhaftigkeit beherrschen sie gut. Begriffe, welche sie einmal gehört haben, können sie schnell relativ gut anwenden, auch wenn sie kaum wissen, was sie eigentlich bedeuten.

Das Bologna-System ist eine Art Dressur. Ins Gute gewendet: weil Studentinnen und Studenten auf der Basis klar definierter Signale (ECTS, Präsenzpflicht, fixer Studienplan, genaue Zeitvorgaben etc.) zum exakten Ausführen einer gewünschten Aufgabe („Leistungsnachweis“) veranlasst werden und weil man sich so erhofft, dass sie schneller studieren und früher dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Einschulung mit 5, Matura mit 18 und mit 22 oder 23 mit dem Bachelor in der Tasche in die Praxis. Tatsache ist jedoch, dass kaum jemand in den Sozialwissenschaften das Studium in den vorgegebenen Semestern abschliesst. Leider zeigt sich, dass das Bologna-System faktisch eine Verlängerung des Studiums mit sich gebracht hat. Schuld daran sind die starren Strukturen, die vielen Prüfungen – und auch der Fakt, dass mehr als 80% der Studierenden nebenher noch arbeiten.

Dies finde ich weiter gar nicht schlimm. Denn ein junger Mensch von 22 Jahren mit einem Bachelor auf dem Arbeitsmarkt wird (zumindest hierzulande) kaum ernst genommen und auf eine verantwortungsvolle Berufsposition gesetzt. Weit schlimmer finde ich, dass Bologna-Studierende vor lauter ECTS-Punkten und Reglementierungen das Wichtigste, was für den Einstieg ins Berufsleben so wichtig wäre, nicht mehr entwickeln können – ihre Persönlichkeit. Sie können nicht mehr herausfinden, wer sie sind, was sie interessiert und wer sie sein möchten. Die fehlende Rechtschreibe- und Grammatikkompetenzen in meinem Seminar haben mir gezeigt, dass diese vor allem ein Symptom des grösseren Konflikts sind, und der heisst Bologna.