Von Margrit Stamm auf Sonntag, 30. Oktober 2016
Kategorie: Blog

Goldmedaillen-Eltern: Wie Eltern im Sport Superkids schaffen.

Ich bin eine passionierte Joggerin und nehme an Mittelstreckenläufen teil. Dabei fällt mir zunehmend ein Phänomen auf, das auch in den Medien vermehrt Aufmerksamkeit erhält: dass ehrgeizige Eltern ihre kleinen Knirpse an so genannte «Kids-» oder «Bambiniläufe» anmelden, sie genauestens in ihrem Laufen beobachten und sie dann regelrecht über die Ziellinie zerren. Viele Organisatoren solcher Veranstaltungen sagen, dass dies bei Kinderläufen schon fast zur Normalität gehöre.

Auch Schwimm- oder Fussballtrainer berichten Ähnliches: Weinende Kinder, schreiende Erwachsene und kein bisschen Spass. Nicht selten verwechseln Eltern ihren eigenen Ehrgeiz mit dem ihrer Kinder. Etwas despektierlich wird dabei von Helikoptereltern gesprochen, die nonstop um ihre Kinder schwirren und beispielsweise im Sport den Nachwuchs früh schon an die Spitze treiben wollen. Dieses Phänomen ist ebenso in unserer FRANZ-Studie empirisch nachzuweisen. In dieser Studie nennen wir sie «Goldmedailleneltern*» oder auch «Trainings-Eltern», die olympiareife Sportler heranzüchten möchten und nichts unterlassen, dieses Ziel - zumindest in ihren Träumen -  zu erreichen. Auch Verbände berichten  von skurrilen Begebenheiten, so etwa, dass es immer wieder zu Ausschreitungen unter Eltern komme und sie die Notbremse ziehen oder gar die Polizei alarmieren müssten, wenn neben dem Platz die Fäuste fliegen oder ein Schiedsrichter massiv bedroht werde.

Goldmedaillen-Eltern haben eine Superkids-Mentalität. Dieser Gruppe, zu der 10 Prozent unserer Stichprobe gehören, ist die sportliche (manchmal auch die musikalische) Laufbahn des Kindes besonders wichtig. Dabei stellen sie ihr Engagement zu einem grossen Teil in den Dienst ihres Nachwuchses, d.h. dass die Väter für die finanzielle Ausstattung der Familie, die Mütter für Haushalt und Familie verantwortlich sind und höchstens ein paar Stunden pro Woche Teilzeit arbeiten, um das Familienbudget aufzubessern und damit auch das teure Hobby des Sprösslings mitfinanzieren zu können. Dabei ist es für sie selbstverständlich, manchmal täglich und auch am Wochenende für ihr «talentiertes» Kind als Eltern-Taxi bereit zu sein und dabei auch noch den Terminkalender im Griff zu haben. Die Mütter spielen dabei eine zentrale Rolle.

Frühes intensives Training und Üben oder Wettbewerbs- und Wettkampferfahrungen machen den Goldmedaillen-Eltern keine Angst, im Gegenteil. Meist sind sie der Ansicht, dass sich dies positiv auf die mögliche Karriere des Sprösslings auswirkt. Nicht selten hoffen sie, ihre Investitionen über ein späteres Profisalär des Kindes um ein Vielfaches wieder hereinzubekommen. Deshalb zeigen sie auch kaum Angst, dass das Kind angesichts der hohen Herausforderungen physische oder psychische Schäden davontragen könnte. Vielmehr sind davon überzeugt, dass es von den Erfahrungen aus dem Wettbewerb nur profitiert.

Selbst stufen sie sich zwar meist als eher zurückhaltend ein, trotzdem argumentieren sie oft mit dem Roger Federer-Modell, der ja schliesslich auch mit vier Jahren angefangen hat, Tennis zu spielen. Seine Eltern seien gar keine typischen Tenniseltern gewesen, sondern er habe diesen Weg selbst gewählt. Die Wunderkinderforschung** zeigt jedoch einhellig, dass die Zahl derjenigen, denen eine solche Karriere misslingt und die den elterlichen Ambitionen nicht genügen, gross ist.

Hat das Phänomen der Goldmedaillen-Eltern zugenommen? Oder gibt es gar mehr talentierte Kinder als je zuvor? Wir wissen es nicht. Denn es gibt keine Längsschnittstudien hierzu. Eher handelt es sich um eine gesellschaftlicheund vor allem auch um eine bildungspolitische Entwicklung. Seit 15 Jahren bekommen Eltern die immer gleiche Botschaft zu hören: Liebe Eltern, Ihr seid für Euer Kind selbst verantwortlich, im Guten wie im Schlechten. Das ist Eure Aufgabe! Damit sie diese Botschaft umsetzen können, steht ihnen ein riesiges Arsenal an  Experten zur Verfügung. Entspricht das Kind nicht den Vorstellungen oder den Wünschen der Eltern, kann es ja therapiert oder eben noch exklusiver gefördert werden. Der Spitzenfussballer oder die Primaballerina liegt dann immer noch drin.

Leider zeigt keine einzige Studie, dass  sich Elternehrgeiz dermassen lohnt. Väter und Mütter spielen zwar eine zentrale Rolle, inwiefern sie ihr Kind in seinen Interessen unterstützen und ihm auch helfen, seine möglichen motivationalen und anderen Blockaden zu überwinden. Aber wenn sie das Talent des Nachwuchses mit dem eigenen Ehrgeiz verwechseln, dann resultiert meist eine psychische Gefährdung: Kinder, die in jungem Alter Wettkampferfahrungen machen müssen, aber noch gar kein Gefühl von Sicherheit und Selbstbewusstsein ausgebildet haben, lernen lediglich, dass ihre Eltern für sie kämpfen und sich mit anderen Eltern streiten, ohne dass sie verstehen, worum es denn genau geht.

Das Fazit aus der vielfältigen Forschung ist dieses: Liebe Eltern, macht Eure kleinen Kinder nicht zu Kampfmaschinen. Euer Leistungsdruck kann vor allem zur Folge haben, dass Eure Kids nicht lebenstüchtig werden. Verwirklicht Euch selbst und praktiziert eine entspanntere Erziehung!

*Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Warum entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.

** Stamm, M. (2014). Handbuch Talententwicklung. Theorien, Methoden und Praxis in Psychologie und Pädagogik. Bern: Huber.

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