Erschienen in: Die Aargauer Zeitung/ Nordwestschweiz, 14.04.2025


«Das Schlimmste für mich ist, wenn meine Eltern mit den Noten nicht zufrieden sind.» Das sagt ein 12jähriger Knabe im Dok-Film von Luzius Wespe «Mein Leben und der Notenschnitt». Es geht ums Bangen und Hoffen, um Träume und Tränen – und um Auswirkungen von Noten auf Kinder. Auch für Eltern sind Noten manchmal ein Damoklesschwert.

Abschaffen? Beibehalten? Objektivieren?

Die Währung unseres Bildungssystems sind die Noten. Trotzdem oder gerade deshalb sind sie umstritten. Die einen wollen sie abschaffen, weil sie nicht mehr zeitgemäss sind. Die anderen plädieren für die Beibehaltung, weil sie Ziffernnoten als objektivste aller Beurteilungsmöglichkeiten erachten. Die Dritten fordern ein faires Beurteilungssystem, das objektive Selektionsprozesse in die nächsthöhere Schulstufe garantieren soll.

Solche Meinungen bilden sich auch in den kantonalen Beurteilungssystemen ab. So sind im Kanton Zürich Alternativen zu Noten wie Smileys oder Feedbackgespräche nur noch in der ersten Klasse erlaubt. Im Kanton Aargau hat der Grosse Rat eine Motion für eine Notenpflicht ab der dritten Klasse gutgeheissen. Anders in der Stadt Luzern, die ab Sommer 2026 die Prüfungsnoten abschafft. Sämtliche Primarschulen werden Alternativen wählen können: Portfolio, Lerntagebuch, Lernkompass oder Kompetenzraster.

Das eindeutigste Forschungsergebnisse: Noten sind anfällig für Verzerrungen

Was sagt die Forschung dazu? Es gibt manche Studien, welche die Prüfungs- und Beurteilungspraxis untersucht haben. Trotz unterschiedlicher Methoden sind Ergebnisse bisher einheitlich. Die Achillesferse ist die Anfälligkeit von Noten für Verzerrungen, die in Beurteilungen einfliessen. Der spektakulärste Aspekt ist der so genannte Referenzgruppenfehler, ein Mechanismus, auf den Lehrerinnen und Lehrer kaum einwirken können. Dieser Fehler entsteht aufgrund der enormen Unterschiede im Leistungsspektrum von Schulklassen. So würde die beste Schülerin einer leistungsmässig durchschnittlichen Klasse zu den eher schwachen gehören, sässe sie in einer besonders leistungsstarken Klasse. Andererseits ist es in schlechten Klassen für den einzelnen Schüler einfacher, gute Noten zu bekommen.

Zweitens entscheidet der Wohnort. Während ein Kind in einer Gemeinde besser als 40 Prozent der Klasse sein muss, um nicht einer Real- (Sek C) oder Sekundarschule (Sek B) zugeteilt zu werden, reichen in einer anderen Gemeinde bereits 10 Prozent. Drittens, und das ist das Verhängnisvolle, werden Verzerrungen bei jeglicher Form der Leistungsbeurteilung wirksam, auch dann, wenn Noten durch Alternativen ersetzt werden. Dazu gehören Buchstaben, Symbole, Wörter, standardisierte Formulierungen oder persönliche Lernberichte. Letztere sind für die Förderplanung sinnvoll, als Selektionsinstrument aber nicht geeignet. 

Der vielleicht wichtigste Faktor sind die massiven Überlappungen zwischen den Leistungszügen. Die Pisa-Studie macht deutlich, dass gewisse Sek C- und B-schülerinnen und -schüler problemlos mit den schwächsten Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mithalten könnten. Da diese Überlappungen für Ausbildungsbetriebe nicht ersichtlich sind, selektionieren sie Lernende häufig nach Schultyp. Das hat zur Folge, dass Sek C-Jugendliche eine sechsmal höhere Chance haben, für eine weniger anspruchsvolle Lehre selektioniert zu werden.

Es gibt kein objektives Beurteilungssystem

Das Konzept der Schulnoten ist nicht nur unpräzis, sondern auch überfrachtet. Es soll eine objektive Selektion und ebenso den Vergleich mit anderen ermöglichen, die Leistungsentwicklung prognostizieren, und manchmal sollen Noten auch motivieren oder disziplinieren.

Bis heute gibt es kein objektives Beurteilungssystem, weder Noten noch alternative Systeme. Was tun vor dem Hintergrund? Die Forschung kann diese Frage nicht beantworten, sondern lediglich die wissenschaftlichen Grundlagen liefern. Die Politik muss solche Herausforderungen meistern.

Meine persönliche Meinung

Doch eine persönliche Meinung habe ich: Noten in der Primarschule abschaffen, sie gegen Ende einführen – zumindest solange es noch keine selektionsfreie Volksschule gibt – doch ergänzt mit «weicheren» Instrumenten. Damit meine ich Beurteilungen von überfachlichen Kompetenzen wie Grit (Hartnäckigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Frustrationstoleranz) und Sekundärtugenden (Pünktlichkeit, Ordnung, Anstrengung, Fleiss). Pädagogische Hochschulen können entsprechende Instrumente zusammen mit Schulen und Berufsbildung entwickeln. Das Ziel muss eine Erweiterung des Tunnelblicks auf Noten sein.