Auf das Berufsimage kommt es an: Über die schwierige Suche nach Lehrlingen


erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 15.03.2024, 2.

Felix hat sich für eine Lehre als Maurer entschieden. Doch er kommt aus einer Akademikerfamilie. «Wir finden deine Wahl gut» haben die Eltern gesagt. Das ist untypisch. Denn akademische Elternhäuser haben meist das Gymnasium und einen Hochschulabschluss im Blick. Und wenn es trotzdem eine Berufslehre sein muss, soll es die sein mit dem höchsten Ansehen. Darum haben Berufe mit einem eher niedrigen Prestige enorme Schwierigkeiten, Lehrlinge zu finden. Im August 2023 waren 33 Prozent der Lehrstellen im Baugewerbe nicht besetzt, im verarbeitenden Gewerbe waren es 26 Prozent. Kaufmännische Berufe hingegen verzeichneten kaum offene Ausbildungsplätze.

Berufswahl aus Prestigegründen

Ausbildungsberufe gelten zunehmend als Visitenkarten auf dem Weg zum Erfolg. Für Familien und ihren Nachwuchs ist es wichtig, was die anderen denken. Als attraktiv gelten Berufe, die auf coole und finanziell gut gestellte Menschen schliessen lassen (Büro, Informatik, Marketing). Berufe wie Bäcker, Metzger oder Maurer stossen eher auf Zurückhaltung oder gar Ablehnung. Warum? Weil die Hände schmutzig werden können und Körperarbeit mit wenig Prestige verbunden ist. Deshalb erfolgt die Berufswahl vor allem aus einer Scheuklappenperspektive. Familien und ihr Nachwuchs konzentrieren sich lediglich auf durchschnittlich fünf der insgesamt 230 Berufe – auf die mit dem grössten Image-Faktor. Das klappt aber lange nicht immer, denn oft ist die Konkurrenz zu gross. Auch wenn weniger beliebte Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen würden, kommen sie aus Prestige-Gründen kaum in Frage. Darum weichen manche Jugendliche auf eine Fachmittelschule oder ein zehntes Schuljahr aus.

Berufliche Identifikation durch TikTok

Doch soziale Medien sind heute die wichtigsten Meinungsmacher. Auf TikTok, Snapchat oder Instagram fühlen sich Jugendliche ständig unter Druck, ihren Eindruck auf andere User zu optimieren. Nur wenn dies gelingt, stimmt die soziale Anerkennung mit Blick auf die Berufswahl. Denn was die Bubble über bestimmte Berufe denkt, wird massgebend für das eigene berufliche Auswahlverhalten und damit für den Aufbau einer eigenen Berufsidentität. Ein Beispiel: Wer sich auf Social Media outet, Influencerin werden zu wollen und dafür positive Rückmeldungen bekommt, fühlt sich in der beruflichen Identifikation bestätigt. Ein Jugendlicher hingegen, der Maurer werden will, darin aber nicht unterstützt oder sogar diffamiert wird, dürfte diesen Wunsch fallen lassen. Ausser er hat ein starkes Selbstbewusstsein und wird von der Familie unterstützt – so wie dies für Felix zutrifft.

Wie könnte das Image unbeliebter Berufe verbessert werden? Dem Bewerbungsmangel mit einer Senkung der Ansprüche begegnen? Beim Abschluss eines Ausbildungsvertrags auf Lockvogelstrategien setzen wie Fahrstunden, ein Smartphone oder ein Fitness-Abo? Berufsbezeichnungen verändern, also von Gebäudereinigerin zu Praktikerin Reinigungstechnik? Eher kaum.

Direkte persönliche Begegnungen statt Social Media

Denn Betriebe berichten, mit solchen Massnahmen würde sich die Anzahl der Bewerbungen nur kurzfristig steigern lassen. Lediglich auf Sprachkosmetik der Berufsbezeichnungen, auf geringere Ansprüche oder finanzielle Anreize zu setzen, erkennen Jugendliche schnell als Mogelpackungen. Dies spricht sich rasch herum, so dass das Berufsansehen noch mehr sinkt.

Dem von Social Media gesteuerten Zwang nach sozialer Anerkennung müsste mehr Rechnung getragen werden. Jugendliche brauchen mehr Gelegenheiten, durch persönliche Begegnungen mit Menschen, die unbeliebte und unbekannte Berufe ausführen, sie kennenzulernen und in einen Dialog zu treten. Was bedeutet für solche beruflich Erfolgreichen soziale Anerkennung? Warum lieben sie ihren Beruf? Solche Modelle würden junge Menschen für ihre Berufswahlentscheidung brauchen. Denn jenseits von TikTok brauchen sie vor allem Bestärkung von Angesicht zu Angesicht – so wie dies bei Felix der Fall war.

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