Bildungsangst und Abstiegsangst


Dreijährige singen «Yes, I am very small», Vorschulkinder besuchen nicht nur Englisch-, sondern auch Ökonomiekurse. Für Förderprogramme geben Eltern Millionen aus. Doch die Wissenschaft spricht von Bildungsangst.

Bildungsehrgeiz zahlt sich aus

Das Phänomen der Bildungsangst ist eher neu und paradox: Noch nie haben Eltern so viel in Kauf genommen für die Bildung ihrer Kinder. Aber auch noch nie haben sie so grosse Angst und so viele schlaflose Nächte gehabt, dass ihr Nachwuchs es nicht schaffen könnte. Abstiegsangst ist eine Hauptursache von Bildungspanik. Die Kinder sollen mindestens den gleichen Status wie die Eltern erreichen oder, besser noch, ihn übertreffen. Wer selbst ein Gymnasium absolviert hat, tut alles dafür, dass dies auch für die eigenen Kinder so bleibt. Und wer zu den Bildungsaufsteigern gehört, die in bessere Positionen gerutscht sind als die Eltern, will seine Kinder so unterstützen, dass sie von Anfang an die besseren Chancen als die anderen haben. Deshalb sucht und verteidigt man Privilegien.

Liegen solche Eltern richtig? Ja, gemäss Studien der Fachhochschule Nordwestschweiz* und der Universität Fribourg** zahlt sich Bildungsehrgeiz aus. Damit gemeint ist aber vor allem der Bildungsehrgeiz der Mittelschicht. Damit die Kinder in der Schule erfolgreich sind, kommt es nicht auf die Stunden an, welche Eltern in die Hausaufgaben ihres Sprösslings investieren, sondern vor allem auf die strategischen Energien, mit denen sie seinen Bildungserfolg planen. Weil sie wissen, dass der Einfluss des Umfeldes wichtig ist, achten sie darauf, dass ihre Kinder in das Milieu hineinwachsen, in das sie ihrer Ansicht nach gehören. Deshalb kann ein hoher Ausländeranteil dazu führen, dass Eltern Quartiere mit vielen bildungsfernen Familien verlassen und in stabil-gentrifizierte Quartiere mit Gleichgestellten und Gleichgesinnten ziehen. Das ist allerdings kein Thema, über das Familien gerne sprechen, und nur die wenigsten geben zu, dass ihr Umzug solche Gründe hatte.

Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit als nicht verwirklichte Ideale

Vergleichbares zeigt sich im Freizeitverhalten. Bildungsbeflissene Eltern versuchen häufig, ihre Kinder über die Hobbys mit dem passenden Milieu zu umgeben. Ballett, Rudern, Reiten, Fechten, Handball oder Hockey – das sind in erster Linie Freizeitbeschäftigungen von Kindern aus gut situierten Familien. Damit dies so bleibt, steuern manche Elternhäuser die Freundschaften der Kinder. Beispielsweise, indem sie auf dem Spielplatz, in der Kita, in der Schule oder im Sportverein bewusst Kontakte zu Familien fördern, welche einen ähnlichen «Habitus» haben.

Das Ziel der Schule wäre, Chancengleichheit («Allen das Gleiche») und Chancengerechtigkeit («Jedem das Seine») herzustellen. Aber bisher sind solche Ideale nicht verwirklicht worden. Weshalb? Weil Abstiegsangst und Bildungspanik dazu beitragen, dass das Schulsystem und die Möglichkeiten staatlicher Regulation bewusst unterlaufen werden, um das eigene Kind zu schützen. Faktoren wie Geld für Nachhilfe und gezielte private Förderung und gehobene soziale Herkunft werden dadurch immens aufgewertet***.

Überfachliche Kompetenzen schlagen Bildungsehrgeiz

Der Tunnelblick mancher Eltern und die Angst, andere Kinder könnten besser sein als das eigene, blenden jedoch eine soziologische Tatsache aus: dass der Bildungsehrgeiz der Familie zwar wesentlich ist, aber nur für die Prognose des Schulerfolgs. Was die Kinder dann auf dem Markt tatsächlich erreichen und inwiefern sie lebenstüchtig werden, bleibt auch in der bildungsambitioniertesten Familie unsicher. Dies deshalb, weil die Konkurrenz möglicherweise pfiffiger, frustrationstoleranter oder durchsetzungsfähiger ist. Solche Eigenschaften lassen sich kaum durch Bildungsehrgeiz entwickeln, sondern vor allem durch die Förderung überfachlicher Kompetenzen. Und daran haperts, das zeigen uns Erfahrungen aus einem Jahr Pandemie.

Literatur

*Niederbacher, E. & Neuenschwander, M. P. (2020). Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23, 739-767.

**Maaz, K., Trautwein, U. & Baeriswyl, F. (2011). Herkunft zensiert. Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule. Vodafone Stiftung Deutschland.

*** Stamm, M. (2022). Angepasst, strebsam, unglücklich: Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder. München: Kösel.

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