Der falsche Blick auf «die armen Migrantenkinder»

Schon lange ist bekannt, dass Kinder mit Migrationshintergrund schlechtere Schulleistungen erbringen als einheimische Kinder und dass diese Unterschiede, vor allem in den sprachlichen und sozialen Kompetenzen, bereits beim Eintritt in den Kindergarten deutlich sichtbar werden. Darauf verweisen viele Studien. Eine Konsequenz aus diesen empirischen Tatsachen war und ist, dass solche Kinder in sprachlich ausgerichteten Gruppen, in Sprachförderprogrammen oder in anderen Massnahmen gezielt gefördert werden. Bund, Kantone und Gemeinden geben hierfür viel Geld aus.

Diese Strategie ist bisher auf grosse Akzeptanz gestossen und nur von der politisch Rechten dahingehend kritisiert worden, dass (Migranten-)Familien selbst verantwortlich seien für die Integration und schulische Vorbereitung ihrer Kinder und nicht der Staat.

Jenseits jeglichen politischen Blickwinkels stellt sich jedoch zunehmend die Frage, weshalb es trotz enormer finanzieller Aufwendungen bisher nicht gelungen ist, das Potenzial dieser Kinder so zu fördern, dass sie beim Schuleintritt günstigere Startchancen haben. Eine Ursache sehe ich darin, dass wir immer bei den Kindern und ihren Familien ansetzen und nie bei den Merkmalen unseres Bildungssystems.

Diese Ursache lässt sich zweifach begründen. Zum einen gibt es in der Bildungsforschung das unbewusste und nicht diskutierte Ritual, Ergebnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen zu wiederholen (man spricht dann von «Replikationsstudien»). Auch in der Forschungsförderung zeigt sich, dass Projekte zu benachteiligten Migranten bevorzugt behandelt werden und dass auch Kantone am meisten Finanzen in wissenschaftliche Begleituntersuchungen dieses Mainstreams stecken. Das Ergebnis solcher Studien ist fast immer das gleiche: Migrantenfamilien vernachlässigen (zu) oft ihre Kinder, fördern sie zu wenig, gehen nicht an Elternabende und interessieren sich nicht ausreichend für unser Bildungssystem. Deshalb gelten ihre Kinder als Bildungsverlierer. Zum zweiten werden solche Ergebnisse von den Medien oft hochstilisiert. Migrantenkinder werden zu einer Risikogruppe, über die bei jeder Gelegenheit ausführlich berichtet wird.

Meines Erachtens ist es vollkommen falsch, immer nur über das Versagen der Migrantenkinder und ihrer Familien zu sprechen, nie jedoch über das Versagen unseres Bildungssystems. Dass auch mehr als zehn Jahre nach PISA die Herkunft immer noch den Schulerfolg bestimmt, ist ein Skandal. Und zwar einer, der nicht lediglich mit einem Sprachförderprogramm für Spielgruppen behoben werden kann. Alle sprechen zwar inzwischen vom «Potenzial der Migranten» und davon, wie es genutzt werden soll, gerade auch im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel. Aber was bringt es, wenn unser Blick nach wie vor auf die individuellen Defizite der Kinder und ihrer Familien gerichtet ist? Wenn wir uns weiterhin davor hüten, über die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems im Hinblick auf Integration und Chancengerechtigkeit zu reden? Mit Sicherheit wird uns dieser Scheuklappenblick nicht weiter bringen.

Deshalb sollten wir den Blick konsequent vom Misserfolg der Familien, ihre Kinder zu fördern, weglenken auf die Barrieren unseres Bildungssystems und uns fragen, weshalb sie von solchen Kindern und ihren Familien nicht überwunden werden können. Setzen wir auf diese Barrieren, müssen wir uns jedoch mit der institutionellen Diskriminierung und ihren Folgen auseinandersetzen. Die institutionelle Diskriminierung geht davon aus, dass organisationale Strukturen oder institutionelle Regelungen des Bildungssystems zu Benachteiligungen von bestimmten Gruppen führen. Die bekanntesten diskriminierenden Mechanismen werden beispielsweise in der massiven Häufung von Kindern mit Migrationshintergrund in Realschulen, Einschulungsklassen oder in den Warteschlaufen beim Eintritt in die Berufsbildung sichtbar, welche solche Jugendlichen viel häufiger als Einheimische drehen müssen.

Die erste Adressatin des Blicks auf die institutionelle Diskriminierung ist deshalb nicht die pädagogische Praxis, sondern die Bildungspolitik. Sie müsste federführend werden, damit wir endlich die Struktur des Bildungssystems verändern und – vor allem die Rolle und Bedeutung der Migranten neu bestimmen.

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