Der Supergirl-Komplex

Versagensängste und Selbstzweifel sind ein Tabuthema, vor allem bei erfolgreichen Personen. Eine neue Studie der Arizona University* bestätigt das, was wir schon seit längerer Zeit wissen: Auch jungen Studentinnen fehlt das Selbstbewusstsein, über das ihre männlichen Kommilitonen offenbar in deutlich höherem Ausmass verfügen. Im Durchschnitt stufen junge Frauen ihre Intelligenz niedriger ein, selbst wenn es zwischen den Befragten objektiv keinen Unterschied gibt. Dies ist insofern ein brisantes Ergebnis, weil es sich bei diesen Personen um Millenials handelt – definiert als Personen, die um die Jahrtausendwende geboren wurden – die wahrscheinlich eine modernere Erziehung genossen und fortschrittlichere Schulen als jede Generation zuvor besucht haben.

Erfolgreiche Frauen, die den Erfolg nicht geniessen können

Auch andere Studien berichten von solchen Selbstzweifeln und zwar nicht erst im jungen Erwachsenenalter, sondern bereits in der Adoleszenz. Deshalb erstaunt kaum, dass Selbstzweifel auch bei Frauen mit herausragenden Berufslaufbahnen noch sehr prägnant sind. Das herausstechende Merkmal ist die Art und Weise, wie erfolgreiche Frauen ihren Erfolg erklären. Anstatt die eigenen Fähigkeiten oder erbrachten Leistungen mit dem erreichten Ausbildungsniveau oder mit Beförderungen resp. Auszeichnungen in Beziehung zu setzen, führen erfolgreiche Frauen diese Fähigkeiten eher auf ihre übermässige Anstrengung oder auf äussere Umstände wie Zufall, Glück oder Begünstigung durch relevante Personen zurück.

Solche Frauen sind meist sicher, dass sie eigentlich überschätzt werden und den Erfolg nicht verdienen. Anstatt den Erfolg zu geniessen und Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit zu entwickeln, befürchten sie eher, zukünftig zu versagen. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen «Impostor Phenomenon»** genannt (Hochstapler-Phänomen). M. E. ist der Begriff etwas unglücklich gewählt, weil man unter Hochstaplern eigentlich Personen versteht, welche vorgeben, etwas zu sein oder zu haben, das nicht den Tatsachen entspricht und solche Merkmale meist mit einer Persönlichkeitsstörung assoziiert. Das ist beim Selbstzweifel-Phänomen nicht der Fall, handelt es sich doch meist um ehrliche, äusserst strebsame und ehrgeizige junge Frauen, die schon in ihrer Kindheit zu den Klassenbesten gehört haben, besonders angepasst waren und oft auch Überleisterinnen gewesen sind.

Selbstzweifel und perfektionistisches Verhalten

Sind Selbstzweifel und grosse Leistungen ein typisch weibliches Phänomen?*** Die Meinungen sind in der Forschung zwar geteilt, doch überwiegt die These, dass die Wurzeln des Selbstzweifel-Phänomens in den sozialen Erwartungen liegen und durch das Stereotyp geprägt sind, dass das weibliche Geschlecht für den Leistungserfolg mehr tun muss und beruflicher Erfolg nicht zum heutigen Mutterbild passt. Sicher ist das Phänomen das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen Anlage- und Umweltfaktoren, wobei eine bestimmte familiäre Sozialisation eine besondere Rolle spielt. Familien vermitteln ihren Kindern Intelligenz und Leistung als sehr hohe Werte. Gerade Mädchen, die besonders sensibel auf Erwartungen reagieren, definieren unbewusst die Liebe der Eltern als Ergebnis ihrer Leistung und definieren sich auch über sie.

Solche Mädchen haben nicht nur sehr hohe Leistungsansprüche, sondern zeigen ebenso ein perfektionistisches Verhalten, setzen sich unrealistisch hohe Massstäbe und haben den Anspruch, jede Aufgabe fehlerfrei und in bester Qualität zu erledigen. Deshalb nenne ich dieses Verhalten auch «Supergirl-Komplex». Obwohl Perfektionismus an sich ein funktional positives Streben ist, kann es dysfunktional wirken, wenn Handlungszweifel, starke Selbstkritik und eine Überbetonung von Fehlern überwiegen. Ein Ausdruck des dysfunktionalen Perfektionismus ist Anorexia Nervosa, die in den letzten Jahren wieder deutlich zugenommen hat und immer jüngere Mädchen betrifft (obwohl auch Knaben an Magersucht leiden). In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden neuerdings auffällig viele Gymischülerinnen behandelt.****

Die gute Nachricht: Selbstzweifel lassen sich bearbeiten

Aus der Forschung wissen wir allerdings, dass Selbstzweifel und damit verbundene negative Begleiterscheinungen bearbeitet werden können. Mädchen  müssen früh und systematisch – und nicht mit ein paar kurzfristigen Massnahmen – in ihrem Selbstbewusstsein gefördert werden. Am wichtigsten sind die Eltern, Schule und Freizeitorganisationen. Wenn sie soziale Kompetenzen nicht weiterhin und überdimensional den Mädchen zuordnen, sondern sie vor allem darin unterstützen, Risikobereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit und Eigenwilligkeit zu entwickeln, machen sie ihnen ein grosses Geschenk. Sich durchbeissen zu lernen und selbstbewusster zu werden können sie auch in einem Mannschaftssport lernen oder in der Pfadi.

Weiterführende Literatur

*Cooper, K. M. et al. (2018). Who perceives they are smarter? Exploring the influence of student characteristics on student academic self-concept in physiology. Advanbces in Physiology Education, 42, 2.

**Chayer, M-H. & Bouffard, H. (2010). Relations between impostor feelings and upward and downward identification and contrast among 10- To 12-year-old students.European Journal of Psychology of Education, 25, 1, 125-140

***Kay, K. & Shipman, C. (2014). The Confidence Gap. The Atlantic. https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2014/05/the-confidence-gap/359815/

*** Rohrmann, S. (2019). Wenn grosse Leistungen zu grossen Selbstzweifeln führen. Das Hochstapler-Selbstkonzept und seine Auswirkungen. Göttingen: Hogrefe.

****https://www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-und-psychologie/was-kinder-in-die-magersucht-treibt/story/31872437

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