Die Akademisierungsfalle: ein Plädoyer für die praktische Intelligenz

Für immer mehr Berufsausbildungen braucht es eine Matura, z.B. um Kindergärtnerin oder Pflegefachmann zu werden. Viele internationale Unternehmen wollen nur noch Leute mit einem Hochschulabschluss einstellen. Die Schweiz braucht mehr akademische Power! Tatsächlich?

Zwar will ich hier nicht in die teils übertriebene Kritik am «Akademisierungsboom» einstimmen (vgl. auch meinen Blog vom Juli 2013). Aber ich möchte seine zunehmend elitären Züge etwas genauer unter die Lupe nehmen und dabei auch aufzeigen, weshalb eine akademische Ausbildung keinesfalls berufliche Expertise garantiert.

Die aktuelle Bildungseuphorie hat zwei Hauptmerkmale: Sie schreitet schleichend, aber unaufhörlich voran, und sie bekommt mindestens teilweise elitäre Züge. So nehmen wir die Nachricht, dass die Quote der unter 35jährigen Professoren bereits auf über 10% gestiegen und damit der Nachwuchs der akademischen Leistungsexzellenz gesichert sei, mit Genugtuung oder gar Bewunderung zur Kenntnis. Deutlich weniger Eindruck macht uns der begabte Schreiner-Lehrling, der bereits im zweiten Ausbildungsjahr die Struktur von Hölzern erkennen und ein Werkstück nach Zeichnungen detailgetreu erstellen kann. Und noch weniger Eindruck macht uns die junge Frau, die sich von einer schlechten Realschülerin zu einer Bau-Polierin in einem Grossunternehmen hochgearbeitet hat, die Bauunternehmung auf der Baustelle vertritt und 20, vorwiegend männliche, Mitarbeitende führt.

Die Schweiz entwickelt sich zu einer Bildungsgesellschaft. Dass ein wachsender Anteil der Berufstätigen eine höhere Bildung hat, ist somit alles andere als negativ. Immer besser ausgebildete Berufsleute sind im Hinblick auf die internationale Anschlussfähigkeit ein Muss. Vor diesem Hintergrund ist der ‚bildende‘ Anteil vieler Berufslehren sicher zu klein. Aber insgesamt wird das schulische Wissen überbewertet. Dies führt dazu, dass der «Akademisierungsboom» zu einer «Akademisierungsfalle» wird und dabei Ausmasse annimmt, die über das Ziel hinausschiessen. Denn viele Stellen sind plötzlich nur noch auf einen kleinen Kreis von Diplomierten zugeschnitten. Fachleute mit vorwiegend praktischen Fähigkeiten werden von Berufen ausgeschlossen, die bisher genau solche praktischen Kompetenzen verlangt haben.

Dass es nicht nur eine akademische Intelligenz gibt, gehört zur pädagogischen Folklore. Trotzdem nehmen wir kreative und praktische Intelligenzleistungen kaum zur Kenntnis. Die Expertiseforschung liefert hierzu wichtige Erkenntnisse. Im Gegensatz zur Begabungsforschung, die sich auf angeborene Fähigkeiten konzentriert, interessiert sich die Expertiseforschung für die Merkmale von beruflich erfolgreichen Erwachsenen. Hauptergebnis ist, dass die Fähigkeit, mit realen Problemen erfolgreich umzugehen, das wichtigste Element von Berufskompetenz ist. Viel Fachwissen oder ein hoher Intelligenzquotient, aber auch ausgeprägtes Üben, garantieren noch keine berufliche Expertise. Wir alle kennen Menschen, die in wissenschaftlich hochstehender Weise über ein Problem sprechen, zu dessen Lösung aber wenig beitragen können. Umgekehrt beobachten wir immer wieder, dass auch viel Übungsarbeit noch keine Experten hervorbringt. Diese Tatsache wird in der Expertiseforschung nicht auf mangelnde Begabung, sondern auf die mangelnde Qualität von Übungsprozessen zurückgeführt. Gerade deshalb spielen Lehrkräfte, Trainerinnen oder Lehrmeister eine wichtige Rolle. Neben dem Fachwissen braucht es auch einen gesunden Menschenverstand respektive eine Portion Intuition.

Was bedeutet dies für die «Akademisierungsfalle»? Erstens, dass sie junge Menschen (und vor allem ihre Eltern) zu einseitig auf den Weg der gymnasialen Matura führt und ihn als Königsweg zum Ausbildungserfolg bezeichnet. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Bedeutung des theoretischen Fachwissens über- und diejenige des praktischen Know-Hows unterschätzt wird. Zweitens, dass sie zur Installation immer neuer Bildungshürden führt, die möglicherweise verheerende Konsequenzen haben. Junge Menschen mit praktischen Begabungen finden immer weniger Berufe, in denen sie diese entwickeln und auch zeigen können. Die praktische Intelligenz ist jedoch ein wichtiges Kulturgut, das die Schweiz gross gemacht hat. Kann sich unsere Gesellschaft eine solche Verschwendung dieses Talents leisten?

 

«Neue» Väter brauchen «neue» Mütter
Späte(re) Karrieren von Paaren erwünscht!

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Kommentare 1

Gäste - Benjamin Ulrich am Mittwoch, 13. Mai 2015 07:32

Vielen Dank für diese spannende Übersicht. Das Thema verdient mehr Ansehen. Ich selbst habe studiert in einem weichen Fach und stelle fest, dass ich ein ganz anderer geworden wäre mit einer Berufslehre. Damals mit 14 fehlte mir aber die entsprechende Unterstützung und vor allem: unternehmerischer Mut, ein Wagnis einzugehen. Mehr Freude hätte es vermutlich alleweil gemacht.

Vielen Dank für diese spannende Übersicht. Das Thema verdient mehr Ansehen. Ich selbst habe studiert in einem weichen Fach und stelle fest, dass ich ein ganz anderer geworden wäre mit einer Berufslehre. Damals mit 14 fehlte mir aber die entsprechende Unterstützung und vor allem: unternehmerischer Mut, ein Wagnis einzugehen. Mehr Freude hätte es vermutlich alleweil gemacht.
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