Die Pflicht, ein perfektes Kind auf die Welt zu bringen

Eine Situation kürzlich im Zug: Ein Kind, augenfällig mit einer Trisomie 21, sitzt mit seiner Mutter in einem SBB-Erstklassabteil und unterhält sich mit ihr lautstark und auffällig. Neben mir eine Gruppe von Männern im besten Alter, die in ihre Management-Geschäfte vertieft sind, sich jedoch offenbar von diesem Kind gestört fühlen. Denn einer flüstert den anderen zu: «Wenn ich ein Kind wie dieses hätte, dann hätte ich den Arzt früh genug gebeten, es wegzumachen.» Ein Kind ‚wie dieses‘ wurde bis vor kurzem als ‚mongoloid‘ bezeichnet.

Ich bemitleidete die Mutter dieses Kindes sehr, bewunderte sie aber zugleich ob ihrer Gelassenheit und ihres Selbstbewusstseins. Und ich fragte mich, welche Diagnostik-Geschichte wohl hinter ihr und ihrem Partner stecken mag. Diskutieren möchte ich hier aber nicht Fragen wie: Soll die Geburt eines mit Sicherheit behinderten Menschen unterbunden werden? Oder ist es menschliche Arroganz, jemandem mit einem Gendefekt leben zu lassen, den man frühzeitig erkannt hat und ihn so seinem Schicksal als Schwerbehinderten auszusetzen?

Es geht mir vielmehr um zwei Aspekte, welche ich in Broschüren zur Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin gelesen habe: dass Eltern die «Wahl» hätten und «Mütter kein Kind mit einem Down-Syndrom gebären müssten».

Schwangerschaft ist zu einem Risikounternehmen geworden. Aus meinem Bekanntenkreis und insbesondere von meinen Mitarbeiterinnen weiss ich, wie Pränataldiagnostik (PND) heute aussieht. Hört man werdenden Eltern zu, was sie als Ratschläge, Aufgaben oder sogar Vorschriften von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin auferlegt bekommen, dann läuft es einem oft kalt den Rücken hinunter. Geredet wird davon, dass Eltern die «Verantwortung der Schwangerschaft tragen» und «wohlfundierte Entscheidungen» treffen sollen. In einem der besagten Informationsblätter zur PND ist sogar schwarz auf weiss gestanden, dass die Medizin die «Geburt gesunder Kinder» ermögliche. Was ist damit im Klartext gemeint? Mit Sicherheit die Vermeidung behinderter Kinder. Alle Mütter und Väter haben Angst, ein solches Kind auf die Welt zu bringen. Heute argumentiert die Medizin jedoch, dass Paare die pränatale Diagnostik wählen können.

Was jedoch meint der Ausdruck ‚Die Wahl haben‘? Vor allem, zu entscheiden, ob getestet werden soll oder nicht. Ist dies ein Verhalten neuer Verantwortung? Und, sind Frauen und Männer, welche die Angebote der Pränatal- und Gendiagnostik nicht direkt nutzen, egoistisch und nicht mehr zeitgemäss? Hierzu schweigen Bioethik und Humangenetik. Das Ziel der neuen Diagnostik wäre ja, den (potenziellen) Müttern und Vätern zu mehr Autonomie zu verhelfen.

In der Tat ist aber jede Entscheidung von werdenden Eltern immer eine angst- und schuldbeladene: Denn keine ist eine, die sie wollen. Ein Kind abtreiben, obwohl es möglicherweise gar nicht beschädigt ist oder es einen Gewinn für die Familie sein kann? Ein Kind nicht abtreiben und ihm dadurch und sich selbst einen Lebensweg zumuten, der überfordernd ist? Das sind tragische Entscheidungen. Der moralische und auch soziale Druck auf die werdenden Eltern ist enorm. Nicht zuletzt auch und gerade deshalb, weil sie vom Rat hochkarätiger Experten und von der Intervention durch Tests, Apparate und medizinische Eingriffe umgeben sind, die jedoch immer ausschliesslich als Prävention oder Prophylaxe und damit als neue Fürsorglichkeit dargestellt werden.

In der Realität bedeutet dies, dass es heute zur Pflicht wird, ein unbehindertes respektive ein perfektes Kind auf die Welt zu bringen und ihm optimale Starchancen ins Leben zu sichern. Diese Ermöglichung ist für Eltern zum Gebot und ihre Aktivitäten zum Versuch geworden, diesen Anspruch einzulösen. Im Endeffekt werden Eltern jedoch in ihrer Autonomie nicht gestärkt, sondern unter Druck gesetzt, von einer Gesellschaft, die sie für die Geburt eines kranken Kindes verantwortlich macht.

 

 

 

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Kommentare 1

Gäste - Andrea Günther (website) am Montag, 09. September 2013 17:00

Dem stimme ich aus ganzem Herzen zu. Als bei uns die Vorsorgeuntersuchungen fällig waren, wurde die grosse Vorfreude auf das Kind getrübt duch all die "Wenn das und das defekt ist..."-Voruntersuchungen. Statt Vorfreude spürten wir Angst und Besorgnis. Bei der Fruchtwasseruntersuchung hiess es, sich auch noch zu entscheiden, ob man diese möchte - denn sie birgt das Risiko in sich, dass das Kind dabei verletzt wird. Mein Mann und ich konferierten. Was wäre, wenn das Kind diesen Gendefekt hätte? Wir wussten: Wir liebten es da schon, auch wenn es noch nicht einmal auf der Welt war und wir würden es kein bisschen weniher lieben, wenn es eine sogenannte Behinderung hätte. Mit dieser Gewissheit fiel uns ein Stein vom Herzen: Wir mussten die Vorsorgeuntersuchung gar nicht machen - denn das Ergebnis machte für uns keinen Unterschied...
Aber uns ich bewusst, dass viele Paare dies anders sehen und nur ein "perfektes" Kind möchten.

Dem stimme ich aus ganzem Herzen zu. Als bei uns die Vorsorgeuntersuchungen fällig waren, wurde die grosse Vorfreude auf das Kind getrübt duch all die "Wenn das und das defekt ist..."-Voruntersuchungen. Statt Vorfreude spürten wir Angst und Besorgnis. Bei der Fruchtwasseruntersuchung hiess es, sich auch noch zu entscheiden, ob man diese möchte - denn sie birgt das Risiko in sich, dass das Kind dabei verletzt wird. Mein Mann und ich konferierten. Was wäre, wenn das Kind diesen Gendefekt hätte? Wir wussten: Wir liebten es da schon, auch wenn es noch nicht einmal auf der Welt war und wir würden es kein bisschen weniher lieben, wenn es eine sogenannte Behinderung hätte. Mit dieser Gewissheit fiel uns ein Stein vom Herzen: Wir mussten die Vorsorgeuntersuchung gar nicht machen - denn das Ergebnis machte für uns keinen Unterschied... Aber uns ich bewusst, dass viele Paare dies anders sehen und nur ein "perfektes" Kind möchten.
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