Diese Lehre will ich nicht! Aversionsfaktoren bei der Berufswahl

«Eigentlich hat mir die Schnupperlehre als Restaurationsfachfrau gefallen. Aber ich werde den Beruf wegen des niedrigen Lohns und des schlechten Images nicht wählen.« (Schülerin, 16)


Die berufliche Grundbildung hat gegenüber Gymnasiem und Fachmittelschulen nach wie vor einen schweren Stand. Deshalb ist ihre Attraktivität zu einem wichtigen bildungspolitischen Thema geworden. Und auch in der Praxis hat sich einiges verändert, man denke an die vielen Massnahmen zur Steigerung der Attraktivität, die berufsspezifischen Werbemassnahmen oder auch an die SwissSkills, die zu einer veritablen Marke geworden sind.

Warum wählen Jugendliche bestimmte Berufe nicht?

Zwar gibt es keinen grundsätzlichen Mangel an Auszubildenden. Beliebte Berufe haben eine hohe Nachfrage, währendem unbeliebten Berufen wenig nachgefragt wird – und zwar auch von Jugendlichen, welche keinen Ausbildungsplatz haben. Sie machen lieber ein zehntes Schuljahr oder wählen eine andere Zwischenlösung, um dem Traumberuf näher zu kommen*. Trotzdem fehlen nach wie vor viele Auszubildende, vor allem in den weniger attraktiven Berufen. Diesen Mangel habe ich in den letzten Jahren verschiedentlich in meinen Publikationen thematisiert und dabei einen Blick auf die Passung und die Rolle der Eltern geworfen**. Nun liegt eine Dissertation von Stephanie  Matthes*** vor, welche die Problematik aus einem neuen wichtigen Blickwinkel beleuchtet. Am Beispiel der Pflegeberufe fokussiert sie auf die Frage «Warum wählen Jugendliche gewisse Berufe nicht?» Somit thematisiert sie nicht den Berufswunsch, sondern gezielt die Nicht-Wahl eines Berufs.

Das Eingangszitat ist eine vertraute Aussage, die Berufsbildende, Lehrkräfte, Fachleute der Berufsberatung und Betriebe immer wieder hören. Auch die Medien berichten regelmässig über die Klagen von Lernenden, welche einen Ausbildungsvertrag gelöst haben. Von schlechter Betreuung ist die Rede, zu viel körperlicher Arbeit, zu wenig Wertschätzung etc. Sind das Gründe dafür, weshalb gewisse Ausbildungsplätze so schwer zu besetzen sind? Hört man auf die Erfahrungsberichte, muss die Antwort fast zwangsläufig "ja" heissen, doch leider gibt es kaum empirische Untersuchungen, welche sich mit der Frage der Nichtwahl von Berufen beschäftigen. Angesichts der Dringlichkeit des Problems ist dies erstaunlich. Umso wichtiger ist die Dissertation von Matthes. Sie hat zwei unterschiedliche Typen von Einflussfaktoren in der Berufsfindung untersucht: Attraktions- und Aversionsfaktoren.

Ergebnisse: Aversionsfaktoren dämpfen Attraktivitätsfaktoren entscheidend

Die Tatsache, dass seit einigen Jahren manche junge Menschen bei ihrer Lehrstellensuche leer ausgehen, obwohl es gleichzeitig zahlreiche unbesetzte Ausbildungsstellen gibt, hängt gemäss den Studienergebnissen stark damit zusammen, dass die noch unbesetzten Ausbildungsplätze für Jugendliche keine akzeptable Alternative zu ihrem eigentlichen Berufswunsch sind. Eine wichtige Ursache hierfür liegt in Aversionsfaktoren, welche die Wahl dieser Berufe so unattraktiv machen. Selbst dann werden solche Berufe ausgeschlossen, wenn auch Attraktionsfaktoren vorhanden sind, d.h. eine gute Passung zwischen beruflichen Interessen und vermuteten Tätigkeiten. Doch bereits einer der Faktoren kann eine Berufsneigung signifikant abschwächen und zum Ausschluss führen. Die stärksten Aversionsfaktoren sind die folgenden:

Mangelnde soziale Passung: Das ist der wichtigste Aversionsfaktor. Weil Menschen ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung haben und Berufe hierzulande eine Visitenkartenfunktion hat, werden Berufe, deren Wahl im Umfeld negative Reaktionen auslösen (könnten), eher ausgeschlossen – und zwar auch dann, wenn die Tätigkeiten des Berufes eigentlich zu den eigenen beruflichen Interessen passen würden. Das ist auch der wichtigste Faktor für den Ausschluss eines geschlechtsatypischen Berufes.

Mangelnde Realisierbarkeit und mangelnde Urteilssicherheit: Dieser Faktor ist verantwortlich dafür, dass junge Menschen, die ihre Zugangschancen zu einem bestimmten Beruf als nicht gut einschätzen und in ihrem Urteil über den jeweiligen Beruf unsicher sind, diesen Beruf ausschliessen. Dies tun sie auch dann, wenn sie durchaus berufliche Interessen an ihm hätten.

Mangelnde Rahmenbedingungen: Dieser Faktor zeigt, dass Lohn, Arbeitszeiten/Freizeit, Aufstiegschancen, körperliche Anstrengung, Konfrontation mit Gerüchen etc. wichtige Rahmenbedingungen sind, die zum Entscheid beitragen, dass der anvisierte Beruf nicht gewählt wird. Solche Aspekte werden als nicht zu den eigenen Zielvorstellungen passend eingestuft – auch wenn eigentlich eine Tätigkeitspassung bestehen würde.

Konsequenzen: Berufsorientierung muss auch Aversionsfaktoren einschliessen

Matthes kommt in ihrer Arbeit zum Schluss, dass Berufsorientierungsmassnahmen nicht nur jene Faktoren berücksichtigen sollten, welche Berufe attraktiv machen, sondern auch Aversionsfaktoren und damit verbundene Reflexionsprozesse einschliessen. Anhand einiger Handlungsempfehlungen liefert Matthes Hinweise, wie die Nicht-Wahl bestimmter Berufe verhindert werden könnte:

1. Die Reaktionen des sozialen Umfeldes zum Thema machen: In der Berufsfindung sollte mit Jugendlichen die so wichtige antizipierte Reaktion des sozialen Umfelds auf eine bestimmte Berufswahl besprochen und mit der tatsächlichen Reaktion verglichen werden. Oftmals bekommen nämlich junge Menschen, die einen untypischen bzw. vermeintlich weniger prestigeträchtigen Beruf wählen, aus ihrem Umfeld oftmals eher positive als negative Reaktionen (vgl. die vielen Berichte in den Medien hierzu). Dies gilt auch für geschlechtsatypische Berufe.

2. Den Blick auf bereits ausgeschlossene Berufe richten: Jugend­liche sollten über viele Berufe informiert werden und vielfältige praktische Erfahrungen sammeln können. Bei der Erkundung ihrer Stärken und Interessen müssen sie Mentorinnen und Mentoren zur Seite haben – all dies sind wichtige Ansatzpunkte zur beruflichen Orientierung, die bekannt sind und praktiziert werden. Doch im Rahmen von Berufsorientierungsmassnahmen sollte der Blick ebenso und explizit auch auf die (oftmals unbewusst) ausgeschlossen Berufe und die Gründe dafür gerichtet werden. Diese Perspektive ist im Hinblick auf das empirische Ergebnis der Arbeit von Matthes bedeutsam, weil der Ausschluss bestimmter Berufe vor allem durch Aversionsfaktoren zu erklären ist.

3. Berufswahltests, Berufschecks etc. und Aversionsfaktoren: Wenn Berufswahlverfahren nicht nur berücksichtigen, was Jugendliche besonders interessant finden und gut können, sondern auch, was sie in jedem Fall vermeiden möchten, könnte dies die Akzeptanz und Treffsicherheit solcher Tests erhöhen.

4. Verbesserung der Ausbildungs- und Rahmenbedingungen der betroffenen Berufe (Lohn, Ein­kommen nach der Ausbildung, Arbeitszeiten, Aufstiegsmöglichkeiten etc.). Solche Faktoren sind ebenso Bestandteile von Nicht-Wahlen, allerdings liegen sie nicht in der Hand einzelner Betriebe, sondern unterliegen politischen und zeitintensiven Veränderungsprozessen.

5. Attraktive betriebliche Bedingungen: Da für Jugendliche der Betrieb eine wichtige Rolle bei der Ausbildungswahl spielt und das Image des Betriebes eben­so die Reaktionen des sozialen Umfelds beeinflusst, ist es wichtig, auch auf Betriebsebene für attraktive Rahmenbedingungen zu sorgen (gutes Betriebsklima, gute Übernahmechancen nach der Ausbildung, sicherer Arbeitsplatz etc).

Weiterführende Literatur

*Stamm, M. (2016). Goldene Hände. Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung. Bern: hep.

**Stamm, M. (2016). Nur (k)eine Berufslehre. Eltern als Rekrutierungspool. Bern: Forschungsinstitut Swiss Education.

***Matthes, S. (2019). Warum werden Berufe nicht gewählt? Die Relevanz von Attraktions- und Aversionsfaktoren in der Berufsfindung. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung.

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