Krieg um die Familie

Die Wogen gehen hoch, die Meinungen sind mehr als nur gespalten: der Familienartikel, über den am 3. März abgestimmt wird, scheidet die Geister. Verständlich, dass die Bürgerinnen und Bürger so viel Herzblut in dieses Thema stecken, geht es doch schliesslich um das Herzstück unserer Existenz: Partner kommen und gehen, das Kind bleibt. Und Kinder und ihre Familien sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, wie sich die Schweiz in der Familienpolitik positioniert.

Was weiss die Forschung hierzu? Für die vorliegende Abstimmung sind vier Punkte besonders bedeutsam: erstens, dass die Familie für die Entwicklung eines Kindes die wichtigste Instanz darstellt, wie auch immer Familienformen und Organisationsstrukturen sind. Die Familie stellt somit die entscheidenden Weichen. Zweitens ist Fremdbetreuung für mehr als zwei Drittel der Kleinkinder in der Schweiz ein Teil ihres Lebens. Als wichtige Errungenschaft der Moderne ermöglicht sie Müttern und Vätern, Kindererziehung und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren. Weil diese Vereinbarkeit teilweise viel Geld kostet, werden Kinder jedoch oft nicht nur in der teuren Krippe, sondern zusätzlich auch von Verwandten, Nachbarn oder Grosseltern betreut. Dieser Betreuungsmix erfordert von den Eltern allerdings ein oft anstrengendes Organisationsmanagement und vom Kind nicht selten eine hohe Stressresistenz. Drittens sind Geborgenheit und Nestwärme – zwei grundlegende Merkmale einer guten Bindung des Kindes an seine Eltern – nicht von der Anzahl Stunden, die sie miteinander verbringen, abhängig, sondern in erster Linie von der Qualität des Zusammenseins. Und viertens zeigen viele internationale Studien, dass in Ländern mit einer besonders erfolgreichen Familienpolitik der Staat eine starke Rolle inne hat, der Dezentralisierung jedoch ebenso grosse Bedeutung beigemessen wird.

Im Familienartikel 115a, der den Titel «Familienpolitik» erhalten soll, spiegeln sich diese Erkenntnisse in den drei Absätzen. Gerade aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist der Artikel für die Schweiz deshalb zukunftsträchtig, weil er neben dem ‚Vereinbarkeitsmodell' (Familie und Berufsarbeit sollen bedarfsgerechter unter einen Hut gebracht werden können) weiterhin auch das ‚Familienmodell' unterstützt, das den Müttern – sehr selten sind es Väter – erlaubt, über einen längeren Zeitraum kein Geld zu verdienen und sich ausschliesslich den Kindern zu widmen. In der Schweiz haben bisher gut 30% der Familien diese Lebensform und ungefähr 70% das Modell mit familienergänzender Betreuung gewählt. In unserer pluralistischen Gesellschaft müssten solche unterschiedlichen Auffassungen vom ‚richtigen Familienleben'eigentlich nebeneinander bestehen können. Blickt man auf den Abstimmungskampf, dann scheint dem aber kaum so zu sein: Da ist einerseits die politische Rechte, die besonders pointiert und mit teilweise fragwürdiger Werbung eine Mutter einfordert, die zu Hause bleibt, damit aus ihrem Kind kein ‚Staatskind' wird. Da sind andererseits aber ebenso Stimmen aus vielen politischen Lagern, die diejenigen Eltern, die sich für das Familienmodell entscheiden, schnell einmal als Bünzli oder Spiesser und als Inbegriff einer antifeministischen und antiliberalen Gesellschaft etikettieren.

Ist es nicht absurd? Lange Zeit wurde beklagt, der Bund kümmere sich nicht um die Familienpolitik. Jetzt, wo ein aus wissenschaftlicher Sicht ausgereifter Artikel vorliegt, degradiert man ihn zur simplen Frage, ob man Familie und Beruf unter einen Hut bringe. Der Familienartikel verfolgt jedoch breitere Perspektiven. Gerade weil die Familie das biographische Zentrum des Kindes ist, jedes dritte Kind in der Schweiz jedoch nicht in eine Familie hineingeboren wird, die ihm gute Aufwachsbedingungen ermöglicht, ist eine stärkere Verantwortung des Bundes ein wichtiger Pfeiler einer zukunftsgerichteten Familienpolitik. Weil trotz der Ausweitung seiner Rolle die dezentraler Vielfalt bestehen bleibt, kann auf diese Weise vor Ort eine stärkere Aufgeschlossenheit gegenüber den Bedürfnissen und der Bedeutung von Familien erwartet und auch provoziert werden. Denn es ist an der Zeit, dass nicht mehr der Wohnort allein entscheidet, ob Frauen und Männer die Unterstützung, aber auch die Freiheit bekommen, die sie brauchen, um ihrer Verantwortung für ihre Familie gerecht zu werden und ihr Familienleben nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten. Der Familienartikel ermöglicht, dass sie selbst entscheiden können, wie sie Fürsorge und Erwerbsaufgaben wahrnehmen und in der Familie aufteilen wollen.

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