Mit Matura-Doping an die ETH?

Es brodelt erneut in der Bildungspolitik. Waren es vor zwei Jahren die steigenden Maturandenquoten gewesen, die vielen ein Dorn im Auge waren, so ist es heute eine Aussage in der Sonntagspresse vom 29. Juli. Denn der neue Rektor, Herr Guzzella, hat sich mit einer Aussage sehr erfolgreich und auch geschickt in der Öffentlichkeit bemerkbar gemacht. Er fordert nämlich härtere Matura-Prüfungen sowie eine bessere Förderung der Talentierten. Innovation sei das beste Kapital der Schweiz, sagt er.

Solche Aussagen unterstütze ich sehr. Denn dass das ‚Niveau‘ an den Schulen gesunken ist, wird schon längere Zeit beklagt. Nur weiss niemand so genau, wie man dieses Problem tatsächlich beheben könnte. Die einen plädieren für frühkindliche Bildung, die andere für Tagesschulen und Elternbildung, die dritten für einen besseren Unterricht. Oder eben, wie dies Herr Guzzella fordert, für strengere (Maturitäts-)Prüfungen. Nur – alle diese Forderungen sind bei genauerem Hinsehen nur die eine Seite der Medaille. Und damit Ausdruck eines relativ engen Blicks auf unser Bildungssystem.Seit langem wissen wir, dass Eltern wichtiger sind als die Schule und dass es ohne Fleiss keinen Preis gibt. Was meine ich damit?

Das Gymnasium ist so beliebt wie noch nie. In der Schweiz besuchen derzeit ca. 74 000 Jugendliche eine Schule, die zur Matura führt. Eltern haben heute einen enormen Drang nach hoher Bildung. Dies trifft insbesondere auf gut gebildete Zugewanderte aus Deutschland zu, denn dort gilt das Abitur für die gebildete Mittelschicht als Standard. Es erstaunt somit nicht, wenn Eltern alles tun, damit ihr Kind die Aufnahmeprüfung besteht. 63% tun dies mittels Nachhilfe, das wissen wir aus verschiedenen empirischen Studien.

Wenn also gefordert wird, dass die Maturitätsprüfungen strenger werden sollen, dann ist mit einiger Sicherheit damit zu rechnen, dass Eltern ihre Optimierungsstrategien anpassen werden, sprich: Sie werden versuchen, ihren Kindern über Lernstudios, Lern-Foren oder über Privatschulen zu Vorteilen zu verhelfen, damit sie auch allenfalls härtere Matura-Prüfungen bestehen. Und wenns sein muss, werden sie Bewertungen der Lehrkräfte ablehnen oder auch Anwälte einschalten. Und schliesslich, kann man ja auch eine Klasse wiederholen…Von solchen Strategien hat mir kürzlich ein Rektor eines Gymnasiums berichtet.

Dass Begabungsreserven entdeckt und Talente besser gefördert werden sollten, ist unbestritten. Dies über strengere Maturitätsprüfungen oder die Anhebung der Studiengebühren zu tun, sind meines Erachtens jedoch kaum geeignete Wege. Sollen die Chancen auf eine Matura oder auf ein ETH-Studium nicht eine Frage der sozialen Ungerechtigkeit werden – weil sie sich über Geld kaufen lassen – dann müssen die Zugangsbedingungen verändert werden. Sprich: Der Zugang zu den Gymnasien sollte nicht allein auf Noten abgestützt werden. Noten sind in einem hohen Mass unpräzis und allein auf sie aufbauende Aufnahmeverfahren kaum mehr zeitgemäss. Dies hat zur Folge, dass ein nicht kleiner Anteil derjenigen, die den Sprung ins Gymnasium schaffen, lediglich besonders fleissig oder durch das Elternhaus gefördert sind und deshalb nur am Rande über die ‚überdurchschnittlichen’ Fähigkeiten verfügen, die dem Gymnasium traditionell zugeschrieben werden

Meines Erachtens wäre es problematisch, wenn sich die ETH einem linearen Denken verschreiben würde, denn bildungssoziologisch gesehen ist es leider überholt. Eltern und die paraschulische Lernindustrie sind längst zu den wesentlichen Parametern für das Matura-Doping geworden. Das Hauptproblem besteht somit nicht darin, dass die Maturanden zu wenig leisten, sondern dass wir keine modernen, dem meritokratischen Prinzip angemessenen Zugangswege und Beurteilungssysteme entwickelt haben. Meritokratie meint, dass jenseits von Stand und kultureller Herkunft Potenzial und Leistung des Individuums im Mittelpunkt stehen.

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