Mütter im Wettbewerb

Alle Welt spricht heute von den Eltern, die ihre Kinder zu sehr in den Mittelpunkt stellen, und sie wie kleine Könige behandeln. Kaum jemand hat bisher jedoch gefragt, woher dieser Trend eigentlich kommt. Meine Vermutung ist, dass es vor allem der Wettbewerbs- und Leistungsgedanke ist, der in den letzten Jahren zunehmend um sich greift und (werdende) Eltern auf diese Weise sozialisiert. Ich möchte dies an drei Beispielen diskutieren: anhand der Untersuchungen in der Schwangerschaft, der Stillpropaganda nach der Geburt und der frühen Förderung in den ersten Lebensjahren. Dabei konzentriere ich mich auf die Mütter, weil zu ihnen am meisten Untersuchungen vorliegen.

Ist eine Schwangerschaft festgestellt, dann geht es los. Werdende Mütter bekommen das Aufgebot zum Ultraschall, zu Glukosetoleranz- und Nackentransparenztests und so weiter. Im Durchschnitt werden heute 14 Kontrolluntersuchungen empfohlen. In der Schweiz findet sich eines der weltweit dichtesten Netze solcher Vorsorgemassnahmen für Schwangere. Sie dienen der Dokumentation des Schwangerschaftsverlaufs zur Überwachung der Entwicklung des Fötus bzw. Kindes und der Abschätzung möglicher Risiken. Selbstverständlich hat die Vorsorge ihre Berechtigung. Doch geht es immer auch explizit darum, die Abweichung vom Normalen zu finden. Diese Situation führt dazu, dass Frauen kaum mehr getrauen, sich unbelastet über ihre Schwangerschaft zu freuen. Sie sind verunsichert und voller Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper, aber voller Vertrauen in Technik, Medizin und Tests. Und nicht nur das. In der Schwangerschaft werden vor allem auch grundlegende Mechanismen des Wettbewerbs gelegt und eingeübt, die für Mütter später selbstverständlich werden. Es geht um Messen, Quantifizieren und Vergleichen – immer in Bezug auf die gesamte pränatale Welt. Der eigene Fötus resp. das eigene Kind ist nur in Ordnung, wenn es nicht von der Norm abweicht.

Ist das Kind dann einmal geboren, dann kommt der nächste kompetitive Schritt, nämlich die optimale Förderung. Tino Heimerdinger* zeigt dies anhand der Ernährung auf, respektive der Frage: Brust oder Flasche? Es gibt heute eine enorme Stillpropaganda, welche zwar meist lediglich «Stillförderung» genannt wird, jedoch einen eindeutigen moralisierenden und normativen Aufforderungscharakter hat. Dabei spielen Ratgeber und Medien eine ganz wichtige Rolle. Zu lesen ist von «Mamas Wundercocktail**», der «mehr als Nahrung» sei. Zudem seien «gestillte Kinder im Durchschnitt intelligenter, gehen länger zur Schule und verdienen mehr.»*** Müttern wird damit nicht nur eingehämmert, dass sie unbedingt stillen sollen, sondern ebenso, dass sie das Maximale für ihr Kind tun müssen und sie alles andere zur Versagerin macht. Auch das Stillen wird somit zum Ausdruck des Wettbewerbs, zum Sieg oder zur Niederlage.

Ganz besonders deutlich findet sich der Wettbewerb in der frühen Förderung. Dabei geht es immer um das Vergleichen des eigenen Kindes mit den anderen im Hinblick auf Überdurchschnittlichkeit. «Meines kann das schon» ist eine Aussage, die man in den Gesprächen zwischen Müttern immer wieder hören kann. Zuerst geht es vielleicht um die ersten Schritte oder die ersten Sätze, dann bald schon um den Erfolg im Frühenglischkurs. Wenn der Kleine bereits nach drei Wochen «train» ruft anstatt Zug oder «bird» anstatt Vogel, dann sind Mütter nicht nur entzückt, sondern vor allem überzeugt, dass sie auf dem richtigen Weg sind – denn sie haben gegenüber anderen Müttern die Nase vorn. Besonders gross ist der Stolz, aber auch der Neid anderer Mütter, wenn das Kind etwas schon ungewöhnlich früh kann.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen, von der Medizin über die Ratgeber bis zu den Medien und den Eltern selbst, haben dazu geführt, dass Eltern, vor allem die Mütter, heute für alles und jedes verantwortlich gemacht werden, sowohl in negativer als auch in positiver Hinsicht. Negativ besehen entwickeln Mütter Schuldgefühle und Ängste, wenn sich ihr Kind trotz allen erdenklichen Anstrengungen nicht der Norm entsprechend entwickelt oder keine überdurchschnittlichen Fähigkeiten zeigt. Glücklich können sich hingegen die Eltern schätzen, welche ein leistungsfähiges und frühreifes Kind haben, das alles besser und schneller als die andern kann. Denn dies gilt als ihr Verdienst und als Ausdruck ihrer Kompetenz.

Dass Eltern ihren Nachwuchs derart ausgeprägt fördern, umsorgen und kontrollieren, ist somit zwar eine Tatsache, oft aber eine falsch interpretierte. Ihre Anstrengungen sind nicht das Ergebnis ihrer Unfähigkeit, Kinder «richtig» zu erziehen. Vielmehr ist es unsere wettbewerbsorientierte Kultur, welche Eltern – und vor allem die Mütter – dazu drängt, perfekt zu sein und perfekte Kinder haben zu wollen.

*Heimerdinger, Timo: Brust oder Flasche? - Säuglingsernährung und die Rolle von Beratungsmedien. In: Simon; Hengartner; Heimerdinger; Lux (Hg.): Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags. Münster , S. 100-110.

**http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/vorzuege-der-muttermilch-mamas-wundercocktail-1.1042732 (17.06.2012)

***http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/stillen-und-intelligenz-muttermilch-macht-besserverdiener-1.2398877 (15. März 2015)

Die neue Epidemie der Talente
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