Rousseau als Feminist?

Heute vor 300 Jahren ist Jean-Jacques Rousseau geboren und zwar in der Schweiz, d.h. in Genf. Er erregte die Gemüter wie sonst niemand vor und nach ihm und auch heute widmen ihm die Medien viel Aufmerksamkeit. Als Frau und Erziehungswissenschafterin interessiert mich die Frage, ob Rousseau tatsächlich nur Einfältige über die Frauen geschrieben hat, so wie dies in vielen Berichterstattungen zu lesen ist.

 Rousseau wird häufig als Antifeminist beschrieben, der in „Emile“ oder „Über die Ungleichheit“ Sätze geschrieben hat wie die Frau sei das zum „Gehorsam bestimmte Geschlecht“ und habe „zur Lebensaufgabe, dem Manne zu gefallen“. Man kann sich über solche Formulierungen empören und sie als ungeheuerlich bezeichnen. Man kann sie auch mit Verweis auf die Biographie Rousseaus als logische Folge seiner Lebensverhältnisse deuten: Bekanntlich hat er mit seiner Freundin Thérèse fünf Kinder gezeugt und alle ins Waisenhaus gegeben.

Wenn man aber in der „La Nouvelle Héloise“ das neunte Buch, „Bekenntnisse“ liest, dann zeigt sich ein ganz anderer Rousseau. Ich habe dieses Kapitel im Zuge der aktuellen Rezensionen über ihn nochmals gelesen. Und es hat mich sehr berührt. Was Rousseau in diesem Kapitel kund tut, ist so etwas wie ein Plädoyer für die Gleichwertigkeit von Mann und Frau – so wie dies Hannelore Schlaffer in der NZZ vom 23. Juni auch schreibt – gleichzeitig aber beschreibt er etwas, was wir heute von vielen Promis zu hören bekommen, wenn sie ihr Ehe-Aus verkünden: Sie würden sich zwar nach wie vor lieben, hätten sich aber kaum mehr etwas zu sagen. Rousseau lässt seine Protagonistin sagen: „Wir kannten uns zu gut, um uns noch etwas Neues sagen zu können“.

Rousseau empfiehlt einen neuen Umgang zwischen Paaren und diesen in basierend im Satz von Julie: „Die Seele hat kein Geschlecht“. Julie wirkt auf mich fast als Vorbild einer modernen Frau, aber auch, wie man eine Partnerschaft leben kann. Sie vereint Widerstand und Vernunft, Sinnlichkeit und Innigkeit.

Vielleicht müsste man Rousseau nicht nur feiern, sondern auch neu lesen.

 

 

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