Vermessene Kinder: Warum viele Kinder überdiagnostiziert werden

erschienen im Nebelspalter, 21.09.2021


Wer als Kind Masern oder Mumps gehabt hat oder sie aus den Erfahrungen mit eigenen Kindern kennt, weiss, was eine «richtige» Kinderkrankheit ist. Heute heissen Kinderkrankheiten eher Wahrnehmungs-, Entwicklungs- oder Sprachstörungen. Glücklicherweise verfügen wir heute über eine schnell wachsende Zahl von Forschungsergebnissen, welche die Bedeutung der frühkindlichen Diagnostik und Förderung unterstreicht. Auch in der Fachwelt ist das Bewusstsein über die Bedeutung von Gesundheitsförderung und Prävention in der ersten Lebensphase und ihre positiven Auswirkungen auf den weiteren Lebensverlauf massiv gestiegen. Schon Friedrich Fröbel, der Begründer des Kindergartens, hat betont, dass man bei der Bildung im Kindergarten nicht ohne erziehende Beachtung des Wachstums des Kindes auskommt und Fachkräfte an den beim Kind beobachteten Gesetzmäßigkeiten ansetzen müssen.

Trotz dieser wichtigen und auch bahnbrechenden Erkenntnisse muss uns die gegenwärtige Entwicklung zu denken geben. Heute werden mehr als die Hälfte der Schulkinder in Therapien oder Alternativtherapien geschickt, und etwa fünf Prozent bekommen die Diagnose ADHS. Doch Kinder sind kaum problematischer als früher. Was sich verändert hat, ist der defizitorientierte Blick auf sie. Noch um die Jahrtausendwende war dies anders. Begabtenförderung war ein grosses Thema, das in manchem kantonalen Schulgesetz mit Sätzen Eingang fand wie «Jedes Kind ist entsprechend seinen Begabungen zu fördern.»

Es gibt heute mehr diagnostizierte als nicht diagnostizierte Kinder

Die Verdrängung der potenzialorientierten Perspektive ist problematisch. Dies lässt uns innehalten und fragen: Was hat die enge Vorstellung dessen zur Folge, wenn immer mehr Varianten des Normalen als pathologisch erklärt werden und jede kleinste Abweichung bereits in den Bereich des Behandlungsbedürftigen gehört? Zwar sind differenzierte Diagnosen ein Meilenstein, insbesondere regelmässige Untersuchungen zur Entdeckung von Entwicklungsverzögerungen. Doch es gibt zwei Grundprobleme. Erstens sind manche Tests und Diagnoseinstrumente auf dem Markt, die handgestrickt und empirisch nicht überprüft sind. Sie basieren oft auf subjektiven Einschätzungen und können deshalb zu Fehldiagnosen führen, vor allem, wenn sie von ungeschultem Personal genutzt werden.

Individuelle Lebensgeschichten werden pathologisiert

Zweitens lösen Tests und Diagnosen immer etwas aus – ob sie richtig oder falsch sind. Diagnosen pathologisieren, Therapien stigmatisieren. Kinder möchten jedoch normal sein. Aber das können sie nicht, wenn sie am Mittwochnachmittag statt auf den Spielplatz in die Ergotherapie müssen. Die übermächtige Suche nach kindlichen Defekten und der Dauervergleich mit der Norm macht aus jeder individuellen Lebensgeschichte eine Pathologie, die fast immer mit einer Etikettierung einhergeht und das Kind als Individuum dahinter verschwinden lässt. Schreibt ein Kind mit einer ADHS-Diagnose einen Aufsatz, dann ist es eben ein typischer Aufsatz eines ADHS-Kindes. Kennt ein als hochsensibel diagnostizierter Kindergärtler das «richtige» Mass zwischen Nähe und Distanz noch nicht, dann gilt er als asozial – und damit als jenseits der Norm.

Unsere Gesellschaft ist auf dem besten Weg, immer mehr normale in defekte Kinder zu verwandeln. Dieser Entwicklung liesse sich entgegentreten, wenn bei Kindern erst bei auffälligen und entwicklungsbeeinträchtigenden Anzeichen eine Abklärung in die Wege geleitet würde. Wäre dem so, würden sie von ausschliesslich defizitorientierten Tests und Diagnosen erlöst und vor unnötigen Therapien geschützt. Würde der Fokus zudem wieder verstärkt auf Begabungen gelegt, könnten manche Elternhäuser mehr an die Stärken ihres Nachwuchses glauben. Und für die Kinder wäre es ein grosses Geschenk, wenn ihnen mehr Zeit zum Wachsenlassen zugestanden würde.

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