Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Weshalb diese Redewendung nur die halbe Wahrheit ist

Vorbei sind die Zeiten, als Bildung wie bei den alten Römern und Griechen noch »schola« und »schole« hiess und als Zeit verlieren, Innehalten und Musse finden verstanden wurde. Dass sie heute vielfach mit einem Treibhaus gleichgesetzt wird, hat seinen Grund auch in der Forschung, in erster Linie in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Erziehungswissenschaft. Obwohl diese Wissenschaften unterschiedliche Schwerpunkte setzen, bauen sie auf einem gemeinsamen Grundverständnis auf:

  • Sie erachten die Vorschuljahre als eine Zeit enormen körperlichen, emotionalen und geistigen Wachstums, in der Kinder eine ungeheure Kapazität zum Lernen entwickeln können.
  • Sie unterstreichen immer wieder, wie wichtig das hierfür notwendige Fundament ist. Kinder brauchen Liebe, Fürsorge, soziale und emotionale Sicherheit sowie auch Stimulation derjenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche sie erfolgreich auf den Schuleintritt vorbereiten.

Auch ihre Botschaft ist eine fast identische: Wer nicht möglichst früh seinen Nachwuchs fördert, nimmt das Risiko verpasster Chancen in Kauf*. «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!» Dieses Hänschen-Argument wird jedoch oft falsch verstanden. In den Medien und vielen Erziehungsratgebern wird nicht selten so getan, als ob das Kind eine Black Box sei und Frühförderung deshalb bedeute, dass man Hänschen nach Belieben wie einen Diamant schleifen und formen könne. Leider haben es anwendungsorientierte Publikationen weitgehend verpasst, solche Missverständnisse anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu relativieren. Die ersten Lebensjahre sind zwar enorm wichtig für eine gelingende Entwicklung, doch zeichnet sich der Mensch durch eine lebenslange Lernfähigkeit aus. Menschen können auch als Jugendliche, als junge Erwachsene oder sogar noch als ältere Menschen vieles lernen – auch wenn späte(re)s Lernen mühevoller und weniger wirkungsvoll als in der frühen Kindheit**. Deshalb sollten wir unsere Aufmerksamkeit zwar auf die frühe Kindheit legen und uns versichern, dass sie tatsächlich für den Aus- und Aufbau von wichtigen Kapazitäten wie Neugier, Selbstvertrauen, Widerstandsfähigkeit oder Frustrationstoleranz genutzt wird. Genauso wäre zur Kenntnis zu nehmen, dass nach dem Vorschulalter keinesfalls alles hoffnungslos verloren ist. «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr», ist deshalb in dieser Formulierung inkorrekt. Vielmehr müsste sie heissen: «Was Hänschen nicht lernt, wird für Hans eine Herausforderung, eine zwar arbeitsintensive, aber eine, die ebenso Erfolg versprechen kann.»

Eine anregungsreiche und liebevolle familiäre Umwelt ist für eine optimale Entwicklung ausreichend. Hingegen kann eine überehrgeizige Stimulation in Form von frühen Förderkursen schädlich sein, wenn sie das Kind in seiner eigeninitiierten Aktivität lähmen oder seine Bedürfnisse nicht berücksichtigen. Allerdings trifft dies für zwei Gruppen von Kindern nicht zu: für solche mit Entwicklungsstörungen und für Kinder aus stark benachteiligten Familien. Beide Gruppen brauchen eine gezielte und frühe Stimulierung und Förderung. Forschungsergebnisse belegen, dass sie davon enorm profitieren können.

Die Einsicht, dass frühe Förderung kleine Kinder überfordern kann, wird von der moralischen Panikmache verhindert, welche sich rund um die frühe Förderung entwickelt hat. Nicht nur das ultimative Gebot zur Frühförderung im Sinne der Hänschen-Redewendung beeinflusst Väter und Mütter ausgesprochen stark, sondern auch unsere Kultur der Angst, d.h. die Annahme und Überzeugung, dass mit dem Nachwuchs mit Sicherheit etwas schiefgehen wird, wenn man nicht permanent und möglichst früh alles Mögliche für ihn tut. Schon junge Eltern lernen, ihre Anstrengungen am Diktat der Machbarkeit zu orientieren. Deshalb getrauen sie sich kaum mehr, einfach so und ohne Förderziel mit dem Kind zu spielen, zu schmusen oder einfach ohne Ziel mit ihm in den Wald zu gehen.

Die Konzentration auf den kleinen Hans, der alles schon früh können muss, hat auch eine andere negative Folge: die Abschaffung des Begriffs des «Bereitseins».*** Gemeint ist die Vorstellung, dass es biologische und entwicklungspsychologische Beschränkungen des Lernens gibt. Das Bereitsein ist von höchster Bedeutung, denn kleine Kinder brauchen auch eine innere Bereitschaft, sich auf Lernmöglichkeiten einlassen zu können, ohne fremdbestimmt zu sein und durch die Woche gehetzt zu werden. Wir sollten den Kindern nicht mehr zumuten als sie ihrem Alter nach verkraften können. Diese Erkenntnis müsste Teil des Mainstreams werden.

 

Weiterführende Literatur

* Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Warum entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.

**Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2014). Frühkindliche Sozialisation. Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven. Halle: Leopoldina. http://www.educ.ethz.ch/pro/litll/sozialisation

***Elkind, D. (1988). Das gehetzte Kind. Hamburg: Kabel.

Ich will - und zwar jetzt! Wie wir Kinder zu klein...
Bankrott der Männlichkeit?

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Kommentare 1

Gäste - erwin wyss am Donnerstag, 05. Januar 2017 10:37

Ausdauer wird früher oder später belohnt –
meistens aber später... (Webseite unten heute)

Der Titel des Beitrags weckte Hoffnungen in meinem Pensionierten-Herz, dass auch "älteren" Kindern Hoffnung gemacht wird, der Zug bezüglich Lernen sei nach 65 noch nicht abgefahren. Aber dafür bist Du, Margrit, ja das beste Beispiel!
Es guets Neuis und weiterhin viel Erfolg

Ausdauer wird früher oder später belohnt – meistens aber später... (Webseite unten heute) Der Titel des Beitrags weckte Hoffnungen in meinem Pensionierten-Herz, dass auch "älteren" Kindern Hoffnung gemacht wird, der Zug bezüglich Lernen sei nach 65 noch nicht abgefahren. Aber dafür bist Du, Margrit, ja das beste Beispiel! Es guets Neuis und weiterhin viel Erfolg
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