Zur Psychologie der Überleister

Lange Jahre habe ich mich mit Hochbegabung respektive überdurchschnittlicher Begabung befasst und dabei auch das Phänomen der Underachiever beleuchtet. Underachiever (Minderleister) sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die aufgrund ihrer kognitiven Kompetenzen deutlich weniger leisten als man von ihnen erwarten würde. Über dieses Phänomen wissen wir heute relativ viel, und es ist auch recht gut beforscht.

Überleister: Kinder die mehr leisten (müssen) als sie könnten

Ganz anders sieht es bei den Overachievern, auch Überleister genannt, aus. Von Überleistern, welche die erwartete Leistung überschreiten, wissen wir  kaum etwas. Es gibt nur sehr wenige theoretische und empirische Studien, und die meisten stammen aus dem anglo-amerikanischen Raum*. Elsbeth Stern von der ETH Zürich geht in einer ihrer Studien von 30 Prozent der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus, welche nicht über die notwendigen Fähigkeiten verfügen würden**. In diesem Blog interessiere ich mich aber nicht für Prozentangaben, sondern allein für die Beantwortung der Frage, die mich umtreibt: Wie gehen Kinder und junge Menschen damit um, wenn sie mehr leisten (müssen) als sie eigentlich im Stande sind? Welche Auswirkungen hat dieser Preis der Optimierung?

Selbstverständlich kann man Überleistung herunterspielen und die Ansicht vertreten, Eltern könnten sich zufrieden schätzen, wenn sie derart leistungsmotivierte Kinder hätten. Leider ist diese Annahme falsch. Der Hang zum Overachievement hat Konsequenzen, welche viel weiterreichen als lediglich bis zu den beschädigten Psychen des Nachwuchses – obwohl dieser Effekt eigentlich allein schon genug sein sollte, um sich mit dem Phänomen zu befassen. Das Phänomen ist zerstörend, nicht nur, weil es existiert, sondern weil es zu einer Art Lebenshaltung geworden ist und junge Menschen mit der Angst vor Misserfolg, Versagen und starken Selbstzweifeln lähmt.

Die Stufen des Overachievements

Wer permanent an seinen Fähigkeiten zweifelt, möchte diese mit guten Leistungen kompensieren und strengt sich deshalb in der Schule, Ausbildung oder Beruf überdurchschnittlich an***. Die Forschung hierzu hat neben dem Overachievement noch eine zweite Strategie zu Tage gefördert, mit denen Menschen ihre Unsicherheiten über die eigenen Fähigkeiten zu bewältigen versuchen, das Self-Handicapping. Meine These ist die, dass Kinder, die sich unter permanentem Leistungsdruck empfinden, zu Overachievern entwickeln und erst dann, wenn sie nicht mehr den andauernd erforderlichen Fleiss zeigen können, zum Self-Handicapper mutieren. Overachievement und Self-Handicapping sind Verhaltensweisen, welche von der gleichen motivationalen Kraft des Selbstzweifels inspiriert sind. Trotzdem unterscheiden sie sich voneinander. Overachiever weiten ihre Anstrengungen aus, währendem Self-Handicapper sie zu vermeiden scheinen.

Erste Stufe: Overachievement

Overachiever fokussieren auf sehr gute Leistungsergebnisse. Sie vermeiden Misserfolge um jeden Preis, doch sind sie gleichzeitig geplagt von fast chronischer Unsicherheit über ihre Fähigkeiten. Diese Sorge ist ein wichtiger Motor für ihre permanente Anstrengung. In der Regel können dadurch die Leistungserfolge zwar erhöht werden. Aber der Erfolg ist immer vergänglich, weil er nicht auf den angeborenen Fähigkeiten aufbaut, sondern sehr abhängig vom kontinuierlich zu zeigenden Fleiss ist.

Zweite Stufe: Self-Handicapping

Bei der Strategie des Self-Handicappings steht die Bewertung der eigenen angeborenen Fähigkeiten im Mittelpunkt. Deshalb verschaffen sich Individuen selbst künstlich ein Hindernis, das die Chancen auf ein positives Leistungsergebnis verringert, um dieses Hindernis anschliessend als Begründung für die schlechte Leistung anführen zu können.  Self-Handicaps sind beispielsweise zu spät mit dem Lernen zu beginnen, die Nacht davor an einer Party zu verbringen oder die eigene Prüfungsangst vorzuschieben. Solche Hindernisse schützen den Selbstwert und sorgen dafür, dass die Ursache für den Misserfolg nicht bei sich selbst oder der mangelnden Intelligenz gesehen werden muss.

Trotz Überleistung bleiben die Selbstzweifel

Das Ironische am Phänomen ist, dass Overachiever riesige Anstrengungen betreiben, weil sie nicht sicher sind, ob ihre Fähigkeiten genügen. Doch auch wenn sie erfolgreich sind, werden sie nicht sicherer, dass sie genügen. Deshalb bleiben sie in diesem Teufelskreis gefangen. Zwar können sie das Self-Handicapping wählen, aber dann müssen sie sich dauernd selbst Steine in den Weg legen, damit Entschuldigungen bei der Hand sind, wenn sie versagen.

Man spricht heute von erschöpften Kindern respektive (jungen) Menschen. Möglicherweise ist eine dahinterstehende Ursache die Überleistung und die damit verbundenen permanenten Selbstzweifel. Der enorme Anstieg an Diagnosen und Therapien kann deshalb ein Mittel sein, sich von diesem Teufelskreis zu verabschieden. Denn eine Diagnose etikettiert zu bekommen - ADHS, Teilleistungsstörungen, Asperger, Sinnesbehinderungen etc. - befreit vor dem Zwang, überdurchsschnittlichen Leistungen vorweisen zu müssen.

Weiterführende Literatur

*Oleson, K. C. et al. (2000). Subjective Overachievement: Individual differences in self-doubt and concern with performance. Journal of Personality 68 (3): 491–524.         

**Stern, E. & Hofer, S. (2014). Wer gehört aufs Gymnasium? Intelligenzforschung und Schullaufbahnentscheidungen. In E. Wyss (Hrsg.), Von der Krippe zum Gymnasium. Bildung und Erziehung im 21. Jahrhundert (S. 41-54). Weinheim: Beltz.

*** Higgins, R. et al. (2013). Self-Handicapping: The paradox that isn’t. New York: Springer Science.

Frauen werden von klein auf zum Selbstzweifel erzo...
Kinder, ihre "Talente" und der Leistungssport:

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