Der virologische Tunnelblick auf die Pandemie - Warum Corona auch eine grosse soziale und emotionale Krise ist

erschienen im Blick, 05.01.2022


Anzahl Tests und positive Fälle, Impfraten, Hospitalisationen, Todesfälle. Das sind die vier grossen Krisenindikatoren, die uns täglich übermittelt werden und uns leer schlucken lassen. Ganz besonders gilt dies für die neuesten Berichte zur dramatischen Situation in Spitälern wegen bevorstehenden Triagen und der Überlastung des Personals.

«Eigenverantwortung»: Das fürchterlichste Wort der Pandemie

Drei Viertel der Bevölkerung – so neueste Studien – fühlen sich durch solche Meldungen belastet, und manche entwickeln ausgeprägte Ängste. Sich fürchten und nur zurückhaltend feiern war deshalb für viele die Devise über die Festtage. Die Mehrheit nimmt die vom Bundesrat empfohlenen Massnahmen nach wie vor ernst: Hände waschen, Maske tragen, Abstand halten, regelmässig lüften, Kontaktreduktion. Deshalb tönt es als Déjà-vu, wenn die Taskforce angesichts der Omikron-Wand zum x-ten Mal das vielleicht fürchterlichste Wort der Pandemie benutzt: «Eigenverantwortung». Es liege nun an uns Menschen, eine zu schnelle Verbreitung von Omikron rasch zu stoppen. Der Grossteil der Bevölkerung verhält sich schon lange eigenverantwortlich. Immer mehr Familien nehmen diesen Appell sogar derart ernst, dass sie ihre Kinder aufgrund der Maskenpflicht aus der Schule nehmen und daheim unterrichten. Dies ist deshalb problematisch, weil die Beweggründe nicht pädagogisch, sondern ideologisch, d.h. massnahmenkritisch, motiviert sind. Offenbar kann der wiederholte Appell an die Eigenverantwortung auch unbeabsichtigte Folgen haben, die mit Blick auf die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder zu denken geben.

Bundesrat und Kantone wollen das Beste für unser Land. Doch sie behandeln die Coronakrise vor allem als medizinisches und logistisches Problem. Der Tunnelblick auf virologische Parameter und Modellberechnungen blendet die gesamtgesellschaftliche Problemdynamik aus, dass die Pandemie auch eine grosse, sozial-emotionale Krise ist. Sie betrifft sowohl Kinder, die aus der Schule genommen werden als auch Jugendliche, die stark eingeschränkt sind, um sich ihren Entwicklungsaufgaben stellen zu können. Dazu gehört die Ablösung vom Elternhaus, in der Peergroup eine Position zu finden oder mit der eigenen Geschlechtsrolle zu experimentieren. Und dies seit fast zwei Jahren – eine sehr lange Zeit für sie. Doch die sozial-emotionale Krise betrifft auch Alte, Familien und Singles, Kranke und Gesunde, Arme und Reiche.

Soziale und emotionale Einsamkeit ist das zweite Virus geworden

Die Bekämpfung von Covid-19 bringt Begleitschäden mit sich, die wie ein Kontrastmittel die normalerweise verborgenen Aspekte des Sozialen zu Tage fördern. Schon seit mehr als einem Jahr berichten Fachleute von der massiven Zunahme psychischer Störungen und Erkrankungen bei allen Altersgruppen, nicht nur bei jungen Menschen. Zwar war dies schon vor der Pandemie ein grosses Thema, doch die Corona-Massnahmen haben solche Belastungen deutlich erhöht. Ein Hauptgrund ist der erzwungene Rückzug in den privaten Raum, der auch für diejenigen Kinder eine besondere Herausforderung ist, die sie nun plötzlich zu Hause unterrichtet werden. Betroffen sind aber auch Studierende und Berufstätige aufgrund von Online-Vorlesungen, Homeoffice und Videokonferenzen jenseits direkter Begegnungen. Und ebenso schwierig ist die Freizeitgestaltung wegen den restriktiven Zugangsbedingungen zu Sport- und Freizeitmöglichkeiten oder die verstärkte Konzentration auf die Kernfamilie, oft in räumlicher Enge und mit zu viel körperlicher Nähe.

Soziale und emotionale Einsamkeit ist das neue zweite Virus geworden, über das kaum gesprochen wird, obwohl es die Psyche vieler Menschen angreift. Es macht Omikron Konkurrenz, weil es auch mutiert, sich rasch verbreitet und alle Generationen befällt. Obwohl die bisherigen Massnahmen im internationalen Vergleich mehr als vertretbar sind, fördern auch sie soziale Isolation, Vereinzelung und Einsamkeit. Zunehmend leben wir in Blasen. Das gilt ganz besonders für Kinder, welche aus Angst der Eltern vor einer Ansteckung nicht mehr zur Schule gehen dürfen und vom sozialen Klassenverband ausgeschlossen sind. Natürlich ist mir bewusst, dass dieser Hinweis auf die Bedeutung sozialer Vereinzelung ein zweischneidiges Schwert ist, weil das Problem des Öfteren von Coronagegnern missbraucht wurde, um schnelle Massnahmenlockerungen zu fordern. Doch darum geht es nicht.

Die wichtigste Lektion der Pandemie: Den richtigen Knopf zu drücken, um sie abzuschalten, gibt es nicht

Die Einsamkeit ist eine kollektive Erfahrung in unserer fast berührungslos gewordenen Gesellschaft – darüber schreibt Diana Kinnert in ihrem neuen Buch. Die Sozialwissenschaften sprechen gar von einer Epidemie, weil das Einsamkeitsempfinden seit Corona gut doppelt so hoch ist wie in den Vorjahren und zu einem fast globalen Status geworden ist. Hierzulande fürchten sich 49 Prozent besonders vor den eingeschränkten Freiheiten, und 38 Prozent haben Angst vor sozialer Isolation und Einsamkeit. Dabei sind unterschiedliche Bevölkerungsgruppen etwa gleich stark betroffen, Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer sowie Menschen mit hoher oder niedriger Bildung. Einsamkeit und Vereinzelung erzeugen Stresssituationen, welche auch krankmachen, Immunität und Resistenz beeinträchtigen und das Gesundheitssystem belasten können.

Am 13. März 2020 ging die Schweiz in den Lockdown, die Pandemie wird bald zwei Jahre alt sein. Heute wissen wir, dass es keine Sicherheit gibt, wie sie zu bewältigen ist. Eher hat uns Corona die vielleicht wichtigste Lektion gelehrt: Den richtigen Knopf zu drücken, um die Pandemie abzuschalten, gibt es nicht. Deshalb ist es an der Zeit – welche Strategien Bund und Kantone zukünftig auch immer wählen – den virologischen Tunnelblick um eine alternative Perspektive zu ergänzen, welche sich auf die sozial-emotionalen Begleitschäden der Pandemie konzentriert.

Resilienz ist das Immunsystem der Seele

Diese Perspektive heisst Resilienz, sie ist das Immunsystem der Seele. In der Wissenschaft bezeichnet der Begriff die Fähigkeit, das, was auf unsere Gesellschaft zukommt, mit Widerstandskraft abfedern zu können. Widerstandsfähig zu werden ist auch eine Entwicklungsaufgabe, die Kindern vorenthalten wird, wenn sie allein wegen der Maskenpflicht nicht mehr zur Schule dürfen.

Natürlich kann die Politik auf die grosse Bedeutung der Selbsttherapie des Individuums zum Aufbau seiner inneren Stärke verweisen und dazu aufs Neue dessen Eigenverantwortung bemühen. Doch das meine ich explizit nicht. Einsamkeit, Vereinzelung und soziale Isolation sind pandemiebedingt ein politisch höchst relevantes Thema geworden. Deshalb braucht es Massnahmen auf Bundesebene, welche auf die Entwicklung psychischer Gesundheitskompetenz setzen. Bundesrätinnen und Bundesräte können den ersten Schritt in dieser Richtung tun, wenn sie sich vermehrt auch als Landesväter und Landesmütter verstehen, welche den Bürgerinnen und Bürgern Zukunftshoffnung geben und damit den Glauben an die eigene "Widerstandsfähigkeit stärken. 


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