Eine Ohrfeige zur rechten Zeit?

erschienen in: Nebelspalter, 16.01.2022

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Sie ist eine wichtige Grundbedingung für ein gesundes Aufwachsen. Nur, wie soll man dieses Recht handhaben? 80 Prozent der Eltern lehnen die Körperstrafe zwar ab, doch 70 Prozent praktizieren sie in leichter Form dennoch, beispielsweise als Klaps auf den Hintern. Das bestätigen auch Heranwachsende. 54 Prozent aus einheimischen Familien erlebten körperliche Züchtigung in der Erziehung, im Gegensatz zu 63 Prozent aus Migrantenfamilien. Elterliche Gewaltanwendung ist somit nicht nur ein Problem bei ausländischen Familien.

Die Körperstrafe gehört in die unterste Schublade

Im Gegensatz zu den Nachbarländern ist es hierzulande nach wie vor nicht verboten, Kinder mit Prügel zu züchtigen. Der UNO-Kinderrechtsausschuss geht darum mit der Schweiz hart ins Gericht und fordert, dass wir das Ohrfeigen-Verbot ins Gesetz aufnehmen. Die allermeisten europäischen Länder haben es in ihrer Verfassung verankert – die Schweiz nicht. Zwar gibt es in unseren Parlamenten regelmässig Vorstösse und Petitionen zur Einführung eines Züchtigungsverbotes, doch scheitern sie ebenso regelmässig an Gegenmehrheiten. Warum? Weil die Mehrheit einen Klaps zur richtigen Zeit als sinnvolle erzieherische Massnahme erachtet oder weil die Überzeugung überwiegt, der Staat solle sich nicht in Familienangelegenheiten einmischen.

Doch Körperstrafe gehört in die unterste Schublade erzieherischer Massnahmen. Gewalt beeinflusst das Denken und Handeln von Kindern und Jugendlichen negativ, das ist eine vielfach belegte empirische Tatsache. Hinweise auf positive Wirkungen elterlicher Gewalt finden sich in keiner einzigen Analyse.

Liebesentzug wird massiv unterschätzt

Trotz dieser Eindeutigkeit ist die Diskussion um die Körperstrafe sehr einseitig. Sie kriminalisiert Väter und Mütter, welchen unbeabsichtigt einmal die Hand ausrutscht. Gleichzeitig verschweigt sie die andere Seite der Medaille sträflich: den Liebensentzug. Wegen seinem manipulativen Charakter gehört er zu den massiv unterschätzten psychologischen Kontrollstrafen. Liebesentzug ist eine Strategie, die sowohl in der Familie als auch in Schulen praktiziert wird. Beispiele sind Desinteresse am Kind signalisieren oder seine Präsenz ignorieren, abwertende Bemerkungen machen und es despektierlich behandeln oder ihm Verantwortung zuweisen, weil man so viel für es tut. Dazu kommen modernere Formen von Liebesentzug, beispielsweise, wenn Kinder jeden Abend vom Babysitter zu Bett gebracht werden, weil die Eltern so viel arbeiten oder wenn kranke Kinder allein zu Hause bleiben müssen.

Die Kosten des Liebesentzugs sind hoch, weil er das Selbstwertgefühl des Kindes beschädigt und ihm durch Manipulation sein Ungenügen vor Augen führt, psychisch, intellektuell und sozial. Liebesentzug ist die wirksamste und schärfste, aber oft unbewusste Form von Strafe mit weit unterschätztem Gefahrenpotenzial.

Weshalb ist der Liebesentzug heute so verbreitet? Weil in den letzten Jahrzehnten die psychologische Bedeutung des Kindes stark zugenommen hat, währendem die Autorität der Eltern zu den «bösen» Wörtern gehört und mit Körperstrafe verbunden wird. Deshalb versuchen manche Väter und Mütter, Kinder ausschliesslich bedürfnisorientiert zu erziehen – allerdings oft unter Zuhilfenahme von Praktiken des Liebesentzugs. Er ist somit auch eine Folge veränderter Erziehungspraktiken und der Diskreditierung von Körperstrafen. Doch als verdeckte Erziehungsstrategie ist Liebesentzug genauso schlimm wie eine «Ohrfeige zur rechten Zeit».

Die ausschliesslich bedürfnisorientierte Erziehung provoziert Liebesentzug

Die politische Diskussion um das Verbot der Körperstrafe ist überfällig. Gleichzeitig wischt sie die Kosten des Liebesentzugs viel zu sehr weg. Ein Ausweg aus dieser Situation liegt in zwei Ansätzen: Erstens, dass über den Zusammenhang von Körperstrafe und Liebesentzug öffentlich gesprochen und dieser enttabuisiert wird. Denn die Praktiken des Liebesentzugs belasten Eltern (und oft auch Lehrkräfte) enorm. Der Trend «Beziehung statt Erziehung» macht manche Eltern oft derart hilflos, dass der Liebesentzug als Bestrafungsmittel zum Zug kommt.

Deshalb sollte die Erziehungsberatung nicht nur die Problematik der Körperstrafe, sondern auch die widersprüchlichen Mechanismen des Liebesentzugs viel stärker thematisieren und Wege aus dieser Patt-Situation in Richtung zeitgemässer Formen gewaltfreier Erziehung aufzeigen. 

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