Mit dem Pferd zur Schule oder: Pädagogische Qualität, anders interpretiert

Mit dem Pferd zur Schule oder: Pädagogische Qualität, anders interpretiert

Ich bin soeben von einem dreiwöchigen Auslandaufenthalt in Argentinien zurückgekehrt. Zwar widmeten wir uns in erster Linie dem Tango Argentino und seinen (enormen) Herausforderungen, doch nutzte ich die Reise auch, mich mit dem argentinischen Bildungssystem, insbesondere demjenigen des Vorschul- und Schuleingangsbereichs, auseinanderzusetzen. Mein Interesse gründet dabei nicht in erster Linie und ausschliesslich im Wissen, was nun genau Argentinien in diesem Bereich leistet oder unterlässt, sondern vor allem auch, was anders ist als bei uns und was uns dieses Andere auch sagen könnte. Mein Blog «Mit dem Pferd zur Schule» diskutiert dieses Andere anhand der ‚pädagogischen Qualität‘: dass man diese in anderen Kulturen ganz anders interpretieren kann als wir dies hierzulande mit unserer ‚ethnozentrischen Perspektive‘ üblicherweise tun.

Mit ‚ethnozentrisch‘ gemeint ist unsere vorherrschende Denkweise, andere Kulturen und Gemeinschaften aus der Perspektive unserer eigenen Kultur zu beurteilen und anhand unserer Normen zu bewerten. Folglich halten wir das, was wir hierzulande als ‚pädagogische Qualität‘ definieren, auch unhinterfragt als das Beste für alle anderen und Abweichungen davon als Mängel.

Nachfolgendes Erlebnis bei einer argentinischen Gaucho-Familie ist ein gutes Beispiel für einen anderen Blick auf die pädagogische Qualität. Das, was bei ihnen als entwicklungsangemessen gilt, wird bei uns schnell einmal als überfordernd und als entwicklungsunangemessen bewertet. Also: Unsere Gastgeber waren eine Gaucho-Familie, bestehend aus vielen Erwachsenen und mindestens sechs Kindern. Sie betreibt vor den Toren von Buenos Aires, etwa 150 km entfernt, auf ihrer «Estancia» eine grosse Rinder- und Pferdezucht. Kindergarten und öffentliche Schule sind 7 km entfernt. Nicht etwa ein öffentlicher Schulbus bringt die Kinder dorthin, sondern das Pferd. Meist sind es zwei Kinder – auf dem obenstehenden Bild der siebenjährige Erstklässler Manuel und der fünfjährige Kindergärtler Fabian – die sich ein Pferd teilen müssen. Sie reiten so zur Schule, alleine und ohne Aufsicht. Für die Eltern und die Lehrkräfte ist dies selbstverständlich. Die Kinder – so deren Argumentation – würden sowieso fast ab Geburt mit dem Pferd vertraut, und es sei notwendig, dass sie diesem gegenüber auch Verantwortung übernehmen. Während des Unterrichts bleiben die Pferde auf der Weide neben dem Schulhaus. Für Fabian und Manuel kommt der wichtigste Moment jedoch nach der Schule: Dann veranstalten sie jeweils sie mit den anderen Kindern Wettrennen. Bei unserem Besuch war gerade das 3 km entfernte Bus-Häuschen das Ziel.

Und wie ich dieser davon stiebenden Gruppe von Kindern nachsah, kam mir das in den Sinn, was ich in meinem Dossier «Achtung fertig Schuleintritt» (siehe auf der Website unter ‚Publikationen‘) den Eltern von Kindergärtlern und Schulneulingen empfehle:

«dass sie [die Eltern] ihr Kind nicht mit dem Auto zur Schule bringen sollten und es dadurch Sicherheit gewinnen könne, sich selbständig im Verkehr zu bewegen oder sie es mit Kleidungsstücken kleiden sollten, die mit licht-reflektierenden Materialien versehen sind… (Seite 30)

Und ich überlegte mir, wie gut es wäre, genau diesen Moment mit den wild reitenden Kindern als Video-Aufnahme für Referate und Weiterbildungen zur Verfügung zu haben. Ein solches Video würde einen guten Ausgangspunkt bilden für hiesige Diskussionen zu den Inhalten pädagogischer Qualität, zu motorischer Frühförderung, zu Elternverantwortung und Überbehütung, zu Sicherheit und Prävention etc. etc. Schade, so bleibt mir nur, anhand des Bildes von Fabian und Manuel jeweils von meinem Erlebnis zu erzählen und damit für ein (selbst-)kritischeres Verständnis zu werben, dass unsere Überzeugung von pädagogischer Qualität nicht per se internationale Gültigkeit haben kann und dass wir aus solchen Vergleichen durchaus etwas lernen könnten.

 

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