Tunnelblick Gymnasium: Bildungspanik und Ansteckungsangst

Die Schweiz arbeitet sich hoch in Richtung mehr Maturanden. Nur im Gymnasium, so das Kalkül vieler Eltern, liegt die Zukunft ihrer Kinder. Offenbar ist dabei ist laut Die ZEIT (21.09.2011) und Tages Anzeiger (05.10.2012) so etwas wie ein 'Grenzverkehr' entstanden: Immer mehr Eltern - Deutsche wie Schweizer - würden ihre Kinder in deutsche Gymnasien jenseits der Grenze schicken.

Das Phänomen des Gymnasiums als einzigem Bildungsziel ist neu, gleichzeitig auch paradox: Noch nie haben Eltern so viel Geld ausgegeben und so viel in Kauf genommen für die Bildung ihrer Kinder. Aber auch noch nie haben sie so grosse Angst gehabt, dass sie es nicht schaffen könnten.

Hat der neue ETH-Rektor, Lino Guzzella, der kürzlich mit seiner Forderung nach härteren Maturaprüfungen für einiges Aufsehen gesorgt hat, diese Panik noch geschürt? Immerhin dürfte es in Zukunft für Eltern etwas schwieriger werden, den Kindern mit der Matura die besten Plätze auf dem Weg zur akademischen Karriere sichern zu können.

Nein, das hat er nicht. Denn Eltern werden immer Wege finden, staatlich gelenkte Vorgaben zu unterlaufen, zumindest diejenigen, die an der Bildung ihrer Kinder interessiert sind. Und dies ist heute die überwiegende Mehrheit der Mittelschicht. Für sie ist Bildung längst kein selbstverständliches öffentliches, sondern ein hart umkämpftes privates Gut geworden. Ihre Interessen sind legitim: Die Kinder sollen mindestens den gleichen Status wie sie erreichen oder, besser noch, ihn übertreffen. Wer selbst ein Gymnasium absolviert hat, tut alles dafür, dass dies auch für die eigenen Kinder so bleibt. Und wer zu den Bildungsaufsteigern gehört, die in bessere Positionen gerutscht sind als ihre Eltern, will seine Kinder so unterstützen, dass sie von Anfang an die besseren Chancen als die anderen haben. Heinz Bude nennt dies in seinem lesenswerten Buch «Bildungspanik» auch Ansteckungsangst: Deshalb sucht und verteidigt man Privilegien.

Dass der Einfluss des Umfeldes entscheidend für die Entwicklung des Kindes ist, wissen die Eltern. Deshalb hat ihre Ansteckungsangst auch etwas Vermeidendes in sich: indem sie Quartiere mit vielen ausländischen Kindern und bildungsfernen Familien verlassen und in solche mit Gleichgestellten und Gleichgesinnten ziehen. Frühförderung ist zur Norm und das Gymnasium zum unhinterfragten Ziel geworden, von Nachhilfestunden und Lernstudios gar nicht zu reden.

Dies ist eine verfahrene Situation. Denn in der Schweiz haben wir keine Bildungskatastrophe, kaum Jugendarbeitslosigkeit, und wir driften auch nicht nach unten ab. Wenn Eltern ihren ganzen Ehrgeiz aufs Gymnasium setzen, wird Bildung zum teuflischen Gut und unsere Bildungsvielfalt zur grossen Verliererin. Die Berufsbildung verliert an Prestige, obwohl die Lehre mit Berufsmatura nicht nur eine berufliche Ausbildung, sondern auch den Zugang zu den Fachhochschulen sichert.

Das Problem ist aber nicht nur das, dass sich Eltern viel zu sehr aufs Gymnasium konzentrieren. Ihre Ansteckungsangst trübt auch den Blick auf eine soziologische Tatsache: dass wir in einer Risikogesellschaft leben, in der es immer Verlierer geben wird und zwar deshalb, weil andere pfiffiger, frustrationstoleranter oder durchsetzungsfähiger sind. Zwar ist die Familie für die Prognose des Bildungserfolgs zentral. Aber was die Kinder dann auf dem Markt tatsächlich erreichen und wie sie sich durchsetzen können, bleibt auch in der bildungsambitioniertesten Familie unsicher. Ausbildung ist immer auch ein Einüben in die Anforderungen einer komplexen Gesellschaft. Diese sind bunter und vielfältiger als der Tunnelblick aufs Gymnasium.

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Migranten und Medien

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