Nur (k)eine Berufslehre! Weshalb Eltern die heimlichen Meinungsmacher sind

erschienen in: Aargauer Zeitung, Die Nordwestschweiz, 11.08.2014

Es ist eigenartig: Die Schweizer Berufsbildung geniesst einen ausgesprochen guten Ruf, doch gehen ihr langsam die Lehrlinge aus. Noch 2007 hätte man sich nicht vorstellen können, dass viele Betriebe sieben Jahre später in bestimmten Berufen händeringend junge Menschen für eine Berufsausbildung suchen. Die Forderung des Gewerbes nach einem Umdenken in der Bildungspolitik ist deshalb nur zu unterstützen. Zwar tun Bund und Kantone mit gezielten Kampagnen ausgesprochen viel. Auch viele Betriebe haben entdeckt, dass sie sich stärker um potenzielle Auszubildende bemühen müssen. Der Erfolg ist trotzdem bescheiden geblieben.

Der Hauptgrund dürfte darin liegen, dass die Eltern als die wichtigste Orientierungsinstanz bei der Berufswahl des Nachwuchses ausgeblendet wurden. Väter, vor allem aber die Mütter, haben nicht nur einen grossen emotionalen Einfluss, sondern sind auch die wichtigsten Bezugspersonen ihrer Söhne und Töchter. Die Gleichaltrigen sind in diesem Prozess weniger wichtig. Deshalb halten Elterndas Zepter fest in der Hand und nehmendas, was die Schulen «Berufsorientierung» bezeichnen, oft gar nicht als Prozess wahr, sondern lediglich als Umsetzung ihrer eigenen Vorstellungen. Der Sohn oder die Tochter soll den Beruf wählen, den sie selbst als der angemessenste erachten.

Wo liegt das Problem? Vor allem darin, dass die Kantonsschule, also der akademische Bildungsweg, eine grosse Anziehungskraft hat und viele Eltern glauben, er sei der einzig Richtige und Sichere. Die Berufslehre ist für sie eher eine Sackgassenausbildung. Nur, wer sollte ihnen dies verübeln, wenn die ganze Welt von Exzellenz spricht, von der Vorschule («Exzellenzkrippen») bis zur Hochschule («Exzellenzuniversitäten»)? Eigentlich ist es mehr als verständlich, wenn viele Eltern dadurch zunehmend beunruhigt sind, ihre Sprösslinge könnten im Wettbewerb um eine gute Ausbildung nicht bestehen. Konkurrenzfähigkeit ist deshalb zum unausgesprochenen Erziehungsziel geworden.

Die Medaille hat wie immer eine Kehrseite. Väter und Mütter entwickeln zunehmend unrealistische Vorstellungen von den Fähigkeiten ihres Kindes. Akademikereltern überschätzen sie häufig, während Eltern aus einfachen Sozialschichten sie oft unterschätzen. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Berufsbildung vor allem von Jugendlichen aus nicht akademischen Elternhäusern in Anspruch genommen wird. Zwar darf man Kantonsschule und Berufslehre nicht gegeneinander ausspielen. Doch ist dieser Zustand mit Sicherheit nicht zukunftsträchtig. Denn in erster Linie sollten Neigungen und Fähigkeiten den Ausschlag zur Berufs- und Bildungswahl geben und nicht die Präferenz der Eltern. Wenn dem so wäre, dann wären mehr Talente in der Berufsbildung vertreten.

Nur, wer weiss denn schon, dass Berufslehre und Berufsmaturität den Weg an eine Fachhochschule erlauben und mittels einer Passerelle sogar ein Universitätsstudium möglich ist? Zu viele Eltern (und oft auf Lehrkräfte) kennen die einmalige Durchlässigkeit unseres Bildungssystems gar nicht. Diese Informationslücke ist in allen Sozialschichten festzustellen, insbesondere auch in ausländischen Familien.

Es ist klar: Die Diskussion um die schwindende Attraktivität der Berufsbildung, der «Kampf um die Talente», hat sich bisher zu einseitig auf Schulen, Betriebe und Verbände konzentriert. Die Familie ist vergessen gegangen. Wenn die Berufsbildung als gleichwertige Alternative zum akademischen Bildungsweg wahrgenommen und von den Eltern und ihrem Nachwuchs tatsächlich auch gewählt werden soll, dann müssen sie zum zentralen Element in der aktuellen Diskussion um den Lehrlingsmangel werden. Deshalb gilt es, Strategien zu entwickeln. Anzusetzen ist auf mindestens zwei Ebenen.

Es braucht eine umfassende Aufklärungsarbeit. Zwar fehlt es nicht an Information und Ratgebern zur Berufswahl, wohl jedoch an solchen relevanter Art. Sie thematisieren zu wenig die Vor- und auch Nachteile der verschiedenen Bildungswege sowie die Fähigkeiten und Talente, über welche der Nachwuchs im Hinblick auf Kantonsschule und berufslehre verfügen müsste. Oft wissen Eltern zudem kaum, wie sie vorhandene Berufsinformation auswählen und gewichten sollen. Zudem kommen sie viel zu spät damit in Kontakt. Die Forschung zeigt nämlich, dass Eltern ihre Bildungsentscheidungen sehr früh, meist bereits im Primarschulalter, fällen. Deshalb muss Informationsmaterial viel früher als dies bisher der Fall gewesen ist, zur Verfügung stehen. Will die Berufsbildung ihre Attraktivität steigern, tut sie somit gut daran, sich verstärkt auf die Eltern als heimliche Meinungsmacher zu konzentrieren.

Die Volksweisheit «Was Hänschen nicht lernt, lernt...
Die Gesellschaft will perfekte Eltern!

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