Die Volksweisheit «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» ist ein Irrtum

Alle Welt spricht von Potenzial. So soll das Potenzial unserer Kleinsten entwickelt und gefördert, das Potenzial von Talenten in der Berufsbildung genutzt oder auch an Hochschulen das Potenzial des Forschernachwuchses besser entfaltet werden. Erkannt haben wir inzwischen auch das Potenzial von älteren Menschen und dasjenige von Migrantinnen und Migranten.

Was aber steckt eigentlich hinter dem Begriff? Heisst «Potenzial zu haben» mit guten Genen ausgestattet zu sein oder eher in einer aufmerksamen Umwelt zu leben, welche es fördern will? In der Öffentlichkeit gibt es hierzu ganz unterschiedliche Meinungen, die allerdings mit dem Stand der Forschung nicht immer übereinstimmen. Zwei Beispiele:

Der clevere Migrantenbub, der sich zum Multimillionär hocharbeitet und eine Tellerwäscherkarriere machen kann: Hinter dieser Vorstellung steckt die Überzeugung, dass Migranten, die sich anstrengen würden, bei uns die gleichen oder sogar besseren Chancen hätten als die Schweizer. Jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, weshalb es bei entsprechendem Wille auch einen Weg nach oben gäbe. Migranten sollten somit ihr Potenzial – gemeint sind offensichtlich die Anlagen – nutzen und sich anstrengen.

Aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist diese Ansicht nicht ganz richtig. Unsere Forschungsergebnisse aus der MIRAGE-Studie (*) zeigen, dass es mit Sicherheit keine einzelnen Faktoren sind, welche den Erfolg von Migranten bestimmen, sondern ein ganzes Set von personalen Merkmalen wie Frustrationstoleranz, Selbstvertrauen und Selbstorganisation, von familiären Merkmalen wie Bildungsambition und hohe Erwartungshaltungen und von betrieblichen respektive (berufs-)schulischen Merkmalen wie Lehrkräfte und AusbildnerInnen als Coaches. Das Fehlen solcher Faktoren ist auch einer der Hauptgründe, weshalb viele Kinder aus benachteiligten Migrantenfamilien, die eigentlich über ein hohes Potenzial im Sinne guter Anlagen verfügen würden, schon vor oder kurz nach dem Schuleintritt durch die Maschen fallen.

Mit Frühförderung kann man alle Kinder erfolgreich machen: Heute gilt die frühe Förderung als Musterbeispiel dafür, wie viel die Umwelt aus kleinen Kindern machen kann. Dabei wird immer wieder betont, dass die Vorschuljahre eine Zeit enormen körperlichen, emotionalen und geistigen Wachstums sind, in der Kinder eine ungeheure Kapazität zum Lernen entwickeln können. Wer nicht möglichst früh seinen Nachwuchs fördert, nimmt das Risiko verpasster Chancen in Kauf. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!

Auch dieses Beispiel muss aus wissenschaftlicher Sicht korrigiert respektive präzisiert werden. Kinder sind keine Black Box, die nach Belieben wie ein Diamant geschliffen und geformt werden können. Zwar stimmt es sehr wohl, dass die ersten Lebensjahre enorm wichtig sind für eine gelingende Entwicklung, doch zeichnet sich der Mensch durch eine lebenslange Lernfähigkeit aus. Menschen können auch im (späten) Erwachsenenalter noch vieles lernen (**). Gleichwohl ist dieses spätere Lernen mühevoller, aufwändiger, zudem finanziell viel teurer und weniger wirkungsvoll als in der frühen Kindheit. Deshalb ist es zwar richtig, wenn unsere Gesellschaft nun (endlich) die Aufmerksamkeit auf die frühe Kindheit legt. Trotzdem ist nach dem Vorschulalter nicht alles hoffnungslos verloren! Man darf die Erkenntnisse der frühkindlichen Bildungsforschung nicht überstrapazieren.

Eine solche schwarz-weiss-Malerei, wie sie in den beiden Beispielen zum Ausdruck kommt, ist falsch. Es kommt nicht nur darauf an, was in einem Menschen drin steckt, also wie gut seine Gene sind oder nur auf seine Umwelt, d.h. seine Erziehung und Förderung. Es gibt kein Entweder-oder, sondern in allen Lebenslagen nur ein Sowohl-als-auch. Entwicklung und Entfaltung von Potenzial finden erst in der Zusammenschau von Anlage, Umwelt und dem Menschen selbst statt. Die Intelligenz eines Menschen ist nicht ab Geburt unveränderbar festgelegt. Intelligenz kann entwickelt werden. Dabei hat die Umwelt einen wichtigen Einfluss. Ist sie positiv, dann fördert sie die Intelligenzentwicklung, ist sie negativ, dann hindert sie diese. Deshalb braucht es eine Passung zwischen den beiden und zwar zu einem richtigen Zeitpunkt.

Gesamthaft gesehen mag die Volksweisheit «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» im Kern zwar richtig sein, aber sie übersieht die schwierige Beziehung zwischen Anlage und Umwelt. Wir sollten deshalb in der Diskussion um die Förderung von Potenzial den Blick auch auf die Interaktion von Anlage und Umwelt legen. Junge Migranten können nicht einfach so erfolgreich werden, nur weil sie zufälligerweise gute Gene haben. Sie brauchen ebenso Personen in ihrer Umgebung, die sie fördern und an sie glauben. Genauso kann auch die beste und teuerste frühe Förderung durch das Elternhaus nur so weit beim Kind Wirkung erzielen, wie dies seine Gene zulassen. Chancen und Grenzen gibt es somit in beiden Richtungen. Insgesamt eine doch eher beruhigende Erkenntnis, nicht?

 

Literatur

(*) Stamm, M. Leumann, S. & Kost, J. (2014). Erfolgreiche Migranten. Ihr Ausbildungs- und Berufserfolg im Schweizer Berufsbildungssystem. Münster: Waxmann.

(**) Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2014). Frühkindliche Sozialisation. Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven. Halle: Leopoldina. http://www.leopoldina.org/de/publikationen/detailansicht/?publication%5Bpublication%5D=593&cHash=38f625e5bf8f4074e27cc87b9905bfe1

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