Sucht nach Sehnsucht? Warum sie uns gerade in der Weihnachtszeit umtreibt

Ein Teil dieses Blogs ist erschienen in der Aargauer Zeitung/Nordwestschweiz, 08.12.2014, 16.

Wir alle kennen die Sehnsucht: Das Ziehen in der Brust, das heftige und schmerzliche Verlangen nach etwas Unerfüllbarem – aber auch das Schwelgen in der Vorstellung vom grossen Glück. Sehnsucht ist eine Quelle von Lebendigkeit, aber auch ein Grund für masslose Enttäuschungen, wenn sie nicht erfüllt wird. Das beste Beispiel für die Sehnsucht als bittersüsse Zwiespältigkeit ist das Weihnachtsfest, das Fest der Liebe, der Geborgenheit und Besinnlichkeit. Ist es dann da, sieht die Realität oft anders aus, und man ist bitter enttäuscht, wenn der Haussegen wieder schief hängt. Deshalb gehört das Bedauern zur Sehnsucht wie der Schatten zum Licht.

Sehnsucht ist ein urdeutsches Konzept. Dichter und Philosophen aller Zeiten haben ihren lustvoll-schmerzlichen Zustand in literarischen Gestalten wie Romeo und Julia, Faust und Gretchen oder Tristan und Isolde besungen. Offenbar übt die unerreichbare persönliche Utopie, die erlebte Unvollständigkeit, eine besondere Anziehungskraft auf uns aus. Sehnsucht gilt denn auch – nach Liebe und Gemütlichkeit – als drittschönstes Wort im deutschen Sprachraum.

Es ist somit keine Frage: Sehnsucht treibt uns um. Sie bestimmt den Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg, von der Kindheit bis zum Tod. In der Kindheit zeigt sie sich als Heimweh, im Jugendalter als Fernweh und im Erwachsenenalter vielleicht als Utopie der Zukunft oder – mit Blick auf die Vergangenheit – als Nostalgie. Ganz unterschiedlich sind jedoch die Inhalte, welche die Sehnsucht beflügeln. Junge und jüngere Menschen sehnen sich eher nach der grossen Liebe, nach einem Kind und einem guten Beruf. Im mittleren Lebensalter ist es vor allem eine erfüllte Partnerschaft, und bei älteren Menschen sind es persönlich gefärbte Motive oder die Sehnsucht nach dem verlorenen oder einem neuen Partner.

Die Sehnsucht gilt bis heute als wenig erforscht. Die «Sehnsuchtsforscher» sind fast an einer Hand abzuzählen: Paul Baltes*, Susanne Scheibe**, Werner Schmid*** oder Werner Gross****. Gerade deshalb interessiert unsere Forschungsstudie «Talent Scout 60+», welche die Entwicklung der Potenziale und Interessen von Menschen auf dem Weg in die Pensionierung untersucht. Im Kern zeigt sie nämlich auf, dass sich älteren Menschen um die 60 offenbar eine besondere Form von Sehnsucht eröffnet: eine starke Suche nach Optimierung, Veränderung oder Vollendung. Dieser Befund ist allerdings kaum überraschend, vielmehr hat er eine innere Logik. Heute gilt die Pensionierung nicht mehr als Anfang einer Restzeit, sondern als Start in eine neue Lebensphase, in der das Leben umgekrempelt werden kann. Sehnsucht ist deshalb Ausdruck des drängenden Wunsches nach neuen Lebensumständen, Lebensentwürfen oder auch nach Vollendung. Sie kann zum Inbegriff der Freiheit werden, nichts mehr so belassen zu müssen, wie es ist und alles neu in Bewegung setzen zu können. Sehnsucht kann deshalb auch als wichtiger Motivator verstanden werden, vielleicht auch als Strategie, um «erfolgreich» zu altern, d.h. Wege zu finden, wie der Geist die Biologie und damit Defizite und Verluste erträglich werden lassen oder überwinden kann.

Sehnsucht speist sich aus sechs Komponenten, die auch im Portrait von Anna B. (siehe unten) aus unserer Talent Scout-Studie zum Ausdruck kommen:

Unvollkommenheit: Das Gefühl, dass einem etwas im Leben fehlt.

Utopie: Die persönliche Utopie, dass man etwas erreichen möchte, wahrscheinlich aber nie mehr erreichen wird.

Gefühlsambivalenz: Ein ersehntes Ziel vor Augen haben und gleichzeitig wissen, dieses wahrscheinlich nicht zu erreichen.

Reflexion: Ein intensives, jedoch selbstkritisches Nachdenken über das Ersehnte und das Bewerten des derzeitigen Entwicklungsstandes, oft im Vergleich zu anderen.

Dreizeitigkeit: Das gleichzeitige Sehnen nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Symbolgehalt: Symbole als Stellvertreter von Sehnsuchtsobjekten (z.B. das Meer als Verkörperung der Freiheit, Unendlichkeit und Nähe zur Natur).

Die schmerzlich-schöne Utopie eines vollkommenen Lebens kann eine Quelle der Motivation, gleichzeitig aber auch der Resignation sein. Weil Sehnsucht sowohl befreien als auch lähmen kann, wohnen ihr zwei Gefahren inne: erstens, dass sie mit der Erfüllung ihren Sinn verliert und sich in Gewohnheit verwandelt. Denn mit dem Erreichen wird das so innig Ersehnte leblos und leer. Die zweite Gefahr ist die, dass unbändige Sehnsucht ausser Kontrolle gerät, negative Folgen haben und in Melancholie oder Nostalgie umschlagen kann.

Sowohl Erfüllung als auch Nichterfüllung können Ursachen sein, damit der Mensch aus lauter Sehnen krank wird und aus Sehnsucht Sucht entstehen kann. Dies ist zumindest eine mögliche Erklärung für die Ergebnisse aktueller Studien, wonach in der Schweiz rund jede zehnte Person über 65 eine süchtige Abhängigkeit entwickelt, nicht selten sogar erst nach der Pensionierung.

Die entscheidende Frage ist somit die, wie wir mit Sehnsüchten umgehen. Denn trotz der beschriebenen Gefahren ist Sehnsucht unverzichtbar. Wir brauchen ihre Energie, die sie in uns freisetzen kann. Um der Sucht zu entgehen, bedarf es gemäss dem Philosophen Werner Schmid*** einer Anstrengung der bewussten Lebensführung. Sie besteht darin, den Unterschied zwischen dem Ersehnten und dem Realen zu bewältigen und dadurch die Sehnsucht derart zu mässigen, so dass sie zu unseren vorhandenen Möglichkeiten passt. Dann wird sie eine Kraft, die der Einzelne nutzen kann, um ein blockiertes Ziel zu lösen oder dem Leben eine neue Richtung zu geben. Voraussetzung ist jedoch: Man denkt über sich nach. Warum nicht gerade in der Adventszeit?

 

Anna, B. (60+),Personalberaterin, die eigentlich gerne Musikerin geworden wäre, sagt: Ich finde es schade, dass ich in meinem Berufsleben so wenig auf Musik habe setzen können («Unvollständigkeit»). Mein Lebenstraum heute wäre, einmal in einer Formation zu spielen – aber ich befürchte, dafür bin ich zu alt («Unerreichbarkeit»). Wenn ich an meine jungen Jahre denke, wie ich an der Expo 68 Klavier gespielt habe, dann macht mich dies glücklich, gleichzeitig aber auch traurig, weil ich wahrscheinlich nie mehr dieses Niveau erreichen werde («Gefühlsambivalenz»). Heute frage ich mich häufig, wenn ich die junge und jüngere Generation sehe, was ich hätte anders machen können, um mich mehr der Musik zu widmen («Reflexion»). Als Kind hätte ich von meinen Eltern alles haben können. Das geht mir oft durch den Kopf. Deshalb ist es heute ein inniger Wunsch von mir, ein Instrument zu lernen und noch etwas Neues zu erreichen. Musik zu machen ist für mich eine kreative Energie, die ich so bisher nicht gekannt habe («Symbolgehalt»).

 

* Baltes, P. (2008). Positionspapier: Entwurf einer Lebensspannen-Psychologie der Sehnsucht. Psychologische Rundschau, 59, 2, 77-86. http://www.sozialpsychologie.uni-frankfurt.de/wp-content/uploads/2012/10/baltes-2008-sehnsucht.pdf

** Scheibe, S. (2005). Longing («Sehnsucht») as a new lifespan concept: A developmental conceptualization and its measurement in adulthood. Dissertation, Freie Universität, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Berlin.

*** Schmid, W. (o.J.) Von der Bedeutung der Sehnsucht. Warum Menschen sich sehnen und warum Erfüllung so schwer ist. http://spol.ch/20jahre/wp-content/uploads/2011/04/Von-der-Bedeutung-der-Sehnsucht.pdf


**** Gross, W. (2002). Hinter jeder Sucht steckt eine Sehnsucht. Freiburg.

 

 

 

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