Keine IQ-Tests für Gymnasiasten!

Tatsache ist: Viele Kinder gehen heute ins Gymnasium, die vor 15 Jahren noch eine Berufslehre gemacht hätten. Tatsache ist auch, dass fast 100% der Kinder aus Akademikerfamilien eine Matura machen, der Anteil derjenigen aus Arbeiter- und benachteiligten Migrantenfamilien jedoch nach wie vor nicht mehr als 20% bis 30% beträgt und in den letzten zwanzig Jahren kaum gestiegen ist. Das bedeutet, dass die oft geforderte Chancengleichheit vor allem eine ist, die gut situiert aufwachsende Kinder begünstigt. Solche Kinder finden den Weg viel einfacher ins Gymnasium, auch wenn sie gar nicht besonders intelligent sind. Genau dies hat Elsbeth Stern letztlich aufgezeigt*, als sie im Tagesanzeiger von ihren Studien berichtet hat, wonach der durchschnittliche IQ in Zürcher Gymnasien nur 112 Punkte beträgt, diese jedoch zu einem grossen Teil von «bildungsnahen» Kindern besucht würden.

Was kann man auf diesen Sachverhalt antworten? Zunächst etwas ganz Grundsätzliches: Ein Bildungssystem muss dem meritokratischen Gedanken und gleichzeitig der Chancengleichheit verpflichtet sein, d.h. dass die individuelle Leistung das entscheidende Prinzip ist und nicht die soziale Herkunft. Es sollten also in erster Linie diejenigen ein Gymnasium besuchen, welche kluge Köpfe haben. Darüber hinaus müssten sie über die notwendigen Persönlichkeitsmerkmale verfügen, welche auch mit den Interessen für akademische Fragestellungen verbunden sind. Wie könnte man dies bewerkstelligen?

Sicher nicht in erster Linie mit IQ-Tests! Zwar wissen wir seit langem, dass IQ-Tests gute Prädiktoren für den zukünftigen Schulerfolg sind, aber in erster Linie deshalb, weil sie das messen, was in der Schule zählt: die akademische Intelligenz, d.h. die Fähigkeit zum abstrakten und logischen Denken**. Bekannt ist jedoch ebenso, dass IQ-Tests nicht kulturfair sind und deshalb Kinder aus anderen Kulturen, aber auch solche aus einfachen Verhältnissen benachteiligen***. Schliesslich ist es fast schon pädagogische Folklore, dass Intelligenz nicht einfach angeboren ist und dann das ganze Leben so bleibt, wie sie einmal gemessen worden ist. Intelligenz wird entwickelt. In einem förderlichen Umfeld, das den Vorstellungen und Gepflogenheiten unserer europäischen Wissensgesellschaft entspricht, gelingt dies besser als in einem Umfeld, das ganz andere kulturelle Vorstellungen hat.

Nun sind Intelligenztests auf der Basis unseres abendländischen Kulturkreises entwickelt worden. Deshalb sind sie kaum auf ökonomisch, sozial oder kulturell benachteiligte Schülerinnen und Schüler ausgerichtet. Obwohl es inzwischen so genannte kulturfaire Intelligenztests gibt – d.h. Verfahren, die von spezifischen kulturellen Einflüssen weitgehend unabhängig sind und Angehörige anderer Gruppen nicht benachteiligen sollen – haben sie bisher nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt. Nach wie vor muss man deshalb davon ausgehen, dass inadäquate Testaufgaben zu Verfälschungen von Testsituationen und Testergebnissen bei Minoritätsgruppen führen.

Wenn unser System bildungsgerechter werden soll, dann müssten wir nicht bei IQ-Tests ansetzen, sondern anderswo. Das Gymnasium besuchen sollte, wer sich für akademische Lehrinhalte interessiert, das Sitzleder und die Motivation hat, sich solche Inhalte anzueignen und sie zu verinnerlichen und wer in der Lage ist, sich auch jenseits von schriftlichen Prüfungssituationen zu bewähren, d.h. im alltäglichen Umgang mit den schulischen Anforderungen.

Gerade weil gut situiert aufwachsende Kinder in dieser Hinsicht vom Elternhaus oft stark gefördert werden – was ich an sich gar kein Problem finde – braucht es dringend eine kompensatorische Förderung der Kinder, die nicht in derart privilegierte Familien hineingeboren worden sind. Weil es aus obigen Gründen offensichtlich ist, dass ihr Potenzial nicht einfach durch IQ-Tests entdeckt werden kann, brauchen sie eine spezielle Vorbereitung auf gymnasiale Selektionsprozeduren jenseits der stofflichen Vorbereitung.

Das bedeutet, dass unser Bildungssystem, anstatt auf IQ-Tests zu setzen, eher kompensatorische Auswahlstrategien einführen sollte. Kompensatorisch nennt man alle Bemühungen, die bewusst auf die Förderung von Kindern zum Ausgleich von familiären, kulturellen und anderen benachteiligenden Defiziten in der Sozialisation ausgerichtet sind. Auswahlprozeduren müssen deshalb ermöglichen, dass Nachteile ausgeglichen werden können. Dies kann erreicht werden, wenn Kinder aus benachteiligten Familien – dazu gehören sowohl solche aus Migrantenfamilien als auch aus Schweizer Familien – vorangehend spezifische Förderung erhalten oder Lernmöglichkeiten zur Verfügung gestellt bekommen, damit sie sich fehlendes Wissen und Können aneignen und ihre Fähigkeiten demonstrieren können. Dies ist gerade für ökonomisch Benachteiligte oder solche mit eingeschränkten Deutschkenntnissen von besonderer Bedeutung. Ein gutes Beispiel ist das Projekt CHAGALL des Instituts Unterstrass.

Dass die Bildungsdirektion Zürich die Einführung von IQ-Tests bei der Aufnahme in Gymnasien schon vor einiger Zeit verworfen hat, ist nur zu begrüssen. Schön wäre es, wenn sie sich  zusammen mit den Schulen überlegen würde, wie man benachteiligten Schülerinnen und Schülern bessere Zugangschancen ermöglichen könnte. Solche Kinder bilden nämlich die zahlenmässig am stärksten besetzte Gruppe der so genannten «Minderleister», d.h., derjenigen Kinder, die deutlich schlechtere Schulleistungen erbringen als dies ihrem Potential entsprechen würde. Somit müssten wir unsere Wahrnehmungspraxis schärfen und unsere Vorstellungen verändern, wonach Begabung – sprich Zugang zum Gymnasium – ein Vorrecht einer bestimmten Kultur oder sozialen Schicht sei.

 

Literatur

*Interview mit Elsbeth Stern im Tagesanzeiger vom 24.10.2014: "In Schweizer Gymnasien sind Kinder, die nicht dorthin gehören". http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/bildung/In-Schweizer-Gymnasien-sind-Kinder-die-dort-nicht-hingehoeren/story/16462778

**Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2014). Frühkindliche Sozialisation. Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven. Halle: Leopoldina. http://www.leopoldina.org/de/publikationen/detailansicht/?publication%5Bpublication%5D=593&cHash=38f625e5bf8f4074e27cc87b9905bfe1

**Stamm, M. (2010). Begabte Minoritäten. Eine Black Box unseres Bildungssystems und wie sie geknackt werden könnte. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 4, 339-356.

 

 

 

 

 

 

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