Von Margrit Stamm auf Mittwoch, 11. September 2024
Kategorie: Blog

Biss ist wichtiger als Talent

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 11.09.2024, 2.


Die Gegner waren mit perfekten Visieren, professionellen Ohrenschützern und Hightech-Schiessbrillen ausgestattet. Anders der Türke Yusuf Dikeç. Er trug eine normale Brille, ein T-Shirt und gängige Ohrenstöpsel. Eine Hand hatte er in der Hosentasche, sein kleines Bäuchlein fiel auf. Mit dieser lässigen Pose holte er die Silbermedaille im Pistolenschiessen an den Olympischen Sommerspielen in Paris.

Mit Biss zur Könnerschaft

Wie war das möglich? Das fragten ihn alle Medien. Er brauche eben nicht viel Ausrüstung, war seine Antwort. Nun gilt er als «Mr. Cool», als Jahrhundert-Naturtalent. Logisch, heute hat Talent ein höheres Renommee als Fleiss und Übung. Doch Yusuf Dikeç sieht dies anders. Seine Fähigkeiten seien der Beweis für sein jahrelanges, strenges Training und für seine unerschütterliche Hingabe, sagte er. Er müsse immer sehr hart arbeiten. Unter Druck stets die Mitte des Ziels zu treffen, sei das Ergebnis unzähliger Übungsstunden und einer akribischen Aufmerksamkeit fürs Detail.

Damit widerlegt Dikeç den Mythos, Talent sei eben angeboren. Entweder man hat es oder eben nicht. Nein, Talent als angeborene Eigenschaft spielt eine untergeordnete Rolle. Eher kommt es darauf an, mit wie viel Biss man etwas tut. Also, ob man beharrlich, intrinsisch motiviert, neugierig ist an einer Sache dranbleibt, auch wenn die Aufgaben langweilig sind. «Grit» ist in der englischsprachigen Forschung der Begriff dafür. 

Intensives und hochstehendes Üben als Herzstück

Um es als Talent tatsächlich zur Meisterschaft zu bringen, braucht es auch hochstehendes und zeitintensives Üben. Das gilt sowohl im Sport, in der Musik, aber auch in Ausbildung und Beruf. Letzteres zeigte sich in unserer Studie zu den Medaillengewinnern an den Schweizer Berufsmeisterschaften SwissSkills. Die Vorbereitung erwies sich als wichtigster Erfolgsfaktor. Je intensiver und herausfordernder sie war, desto höher war die Chance auf eine Medaille.

Ohne Anstrengung verpufft fast jedes Talent. Das gilt auch für Wunderkinder. Oft sind sie sehr gut, wenn die Dinge wie erwünscht laufen. Doch wenn dem nicht so ist, geben sie auf. Auch Heranwachsende entscheiden sich manchmal für ein Musikinstrument oder einen Sportkurs, steigen aber schon vor Semesterende wieder aus. In der Schule lassen sich manche sofort entmutigen, sobald sich ein Misserfolg einstellt. Gleiches gilt für Erwachsene, die zwar enthusiastisch und mit vielen guten Vorsätzen etwas Neues in Angriff nehmen, aber aufgeben, wenn erste Hürden auftauchen.

Die Werbung macht es sich zu einfach

Es wäre falsch, diesen Menschen Vorwürfe zu machen. Es gibt auch externe Faktoren, die einen Einfluss haben. Neben den Botschaften der Optimierungsgesellschaft, Erfolg sei nur eine Frage der Strategie oder höchst erwartungsvollen Elternhäusern ist es vor allem die Werbung. Immer wieder überstrapaziert sie den Talentbegriff. So bewerben Sportvereine schon Vorschulkinder als zukünftige «Talente». Verständlicherweise weckt dies bei Eltern grosse Illusionen, ihr Sprössling könne es an die Leistungsspitze bringen. Genauso werden junge Erwachsene in Bahnhofspassagen mit grossformatigen Werbungen angelockt: «Starte deine Karriere bei uns, entdecke dein Talent und präge unsere Zukunft mit!» Solche Werbungen machen es sich zu einfach. Kein Wort davon, dass es jedes Talent nur mit Biss zur Könnerschaft schaffen kann.

Entzaubert den Mythos des angeborenen Talents!

Der Begriff Talent ist zu entzaubern. Mr. Cool, der Silbermedaillengewinner Yusuf Dikeç, ist ein perfektes Modell dafür – aber auch Roger Federer. Anlässlich seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde am Dartmouth College im Juni hat er gesagt: «Keiner meiner Erfolge war mühelos und ein Ergebnis meines Talents. Ich habe geübt und geübt, geflucht und geschwitzt, aber ich habe immer besser sein wollen als die anderen.» Biss eben – auch Federer entzaubert den Mythos vom angeborenen Talent. 

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