Unterschwellig ist den meisten Menschen bewusst, dass unsere Gesellschaft Bildungsungerechtigkeiten (re-)produziert. Das dürfte einer der Hauptgründe sein, warum an bildungspolitischen Apéros dieses Thema so beliebt ist. Auffallend schnell wird die Metapher »Jeder ist seines Glückes Schmid« herangezogen, um zu versichern, junge Menschen aus bescheidenen Verhältnissen könnten es mit genug Fleiss, Anstrengung und Hartnäckigkeit selbstverständlich zu etwas bringen. Aufstieg durch Bildung heißt die Formel, die oft mit dem American Dream gleichgesetzt wird, der den Entschlossenen den Weg nach oben weist.
Doch diese Metapher ist ein ideologisches Konstrukt. Sie will krampfhaft damit überzeugen, es entscheide allein der individuelle Ehrgeiz über den Berufserfolg, und dieser sei das Ergebnis des Willens. Unerwähnt bleibt, dass systemimmanente Prozesse wie Herkunft, Ressourcen der Familie oder ungerechte Zensurengebung solche Prozesse beeinflussen. Logischerweise interpretieren benachteiligte Kinder, die ihr Potenzial nicht ausnutzen können, solche Schranken oft als Folge ihrer eigenen Unzulänglichkeit.
Weil das Sprichwort »Jeder ist seines Glückes Schmied« die Situation verfälscht, wirkt der ihm innewohnende Sinn umso dramatischer. Treffender wäre deshalb die Metapher »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«. Denn Kinder verhalten sich – zumindest bis zur Adoleszenz – meist ähnlich wie ihre Eltern und interessieren sich für die gleichen Dinge. Ein Apfel, der aus den Ästen seines Apfelbaums zu Boden fällt, wird kaum weit vom Baumstamm entfernt zu finden sein – allerdings mit Ausnahmen: begabte junge Menschen, denen der Bildungsaufstieg tatsächlich gelingt.
Die schön geredete Chancengleichheit
Akademische Bildung ist nach wie vor ein herkunftsbezogenes Privileg. Das ist in allen deutschsprachigen Staaten so. Trotz des hehren Ideals der Chancengleichheit fällt vielen die Anerkennung der empirischen Tatsache schwer, wonach Bildung immer noch überdurchschnittlich stark vererbt wird (Gerhartz-Reither, 2017). Auch die Bildungspolitik nutzt solche Mantras als Legitimationsmuster. Erstens ist es der beliebte Verweis auf die besondere Durchlässigkeit unseres Bildungssystems. Wer es nicht ans Gymnasium schaffe, könne später trotzdem ein Hochschulstudium absolvieren. Zweitens ist die Überzeugung verbreitet, Kinder aus einfach gestellten Familien seien in der Sekundarschule (Deutschland: Realschule; Österreich: Neue Mittelschule) besser aufgehoben, weil sie von Vätern und Müttern kaum Hilfe erwarten können. Beide Hinweise sind zwar wichtig, die damit verbundenen Legitimationsmuster jedoch falsch.
Mit einer Berufsehre und einer Berufsmatur wird ein Studium an einer Fachhochschule möglich, so das erste Muster. Längst ist das der Ausbildungskönigsweg für junge Menschen aus durchschnittlichen Verhältnissen geworden. Und diese wichtige Form von Durchlässigkeit hat auch teilweise zum Abbau der sozialen Ungleichheit beim Hochschulzugang beigetragen. Währendem an Universitäten nur eine von fünf Personen aus bescheidenen Verhältnissen studiert, sind es an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen immerhin ein gutes Drittel (Stamm, 2016a). Das ist eine erfreuliche Entwicklung, doch darf sie nicht schöngeredet werden. Es kann nicht sein, dass diese Durchlässigkeit als Alibi benutzt wird, intellektuell begabte Arbeiterkinder in die Berufsbildung mit dem Hinweis auf die Möglichkeit eines späteren Hochschulstudiums abzulenken, während Söhne und Töchter aus Akademikerfamilien unhinterfragt wieder Akademiker und Akademikerinnen werden. Kinder aus der Arbeiterschicht übernehmen solche Begründungen weitgehend und sehen sich darin bestätigt, zu wenig intelligent fürs Gymnasium zu sein, weshalb der Entscheid der Schule gerecht sei.
Auch das zweite Legitimationsmuster hat seine argumentativen Lücken. Es setzt zu sehr auf die Erwartung, Väter und Mütter müssten mithelfen, die Lernleistungen ihrer Kinder zu festigen. Deshalb sollten sie eine "verantwortete Elternschaft" als Grundlage für eine erfolgreiche Schullaufbahn pflegen. Dem widersprechen die meisten Untersuchungen der frühkindlichen Bildungsforschung. Sie weisen nach, wie sehr sich Kinder bereits beim Eintritt in den Bildungsraum unterscheiden und einen bemerkenswert unterschiedlichen Rucksack an Startkapital und familiären Unterstützungsmöglichkeiten mit sich bringen. Auf dieser Basis werden sie entsprechend ihrer sozialen Herkunft sortiert. Arbeiterkinder werden in die Sekundarschule (Schweiz), die Haupt- bzw. Neue Mittelschule (Österreich) oder in die Hauptschule respektive Realschule (Deutschland) gelenkt, währendem Akademikerkinder den Gymnasien zugewiesen werden (Vester, 2009; 2018; Stamm, 2018).
Wer hat, dem wird gegeben
Maßnahmen zur vorschulischen Förderung sind besonders wichtige Beiträge zur Startchancengleichheit. Eine gute und systematische frühe Förderung kann die Startchancen zumindest etwas weniger ungleich machen. Trotzdem bleibt zu oft außen vor, wie sehr frühe Förderung in gut situierten Familien ein Hype geworden ist, der sich auch in einer sehr hohen Nutzung privater Angebote zeigt. Und dies, obwohl empirisch relativ gesichert ist, dass frühe Förderkurse für gut Betuchte eine eher geringe Wirksamkeit haben im Hinblick auf den späteren Bildungserfolg (Stamm, 2016b). Nicht zu unterschätzen ist allerdings, dass solche Kinder vor allem den Habitus von Bildungsinstitutionen kennen, was ihnen einen Vorteil bei der Einschulung verschafft. Doch all diejenigen Kinder, die frühe Förderung am nötigsten hätten, fallen am häufigsten durch die Maschen. Spezifische Angebote für sie sind zu selten systematisch vorhanden, meist eher zufällig und von der Kommune, vom Kanton respektive vom Bundesland abhängig. Diese Situation trägt dazu bei, dass der Vorschulkindheit droht, zu einem neuen Schlüsselbereich der sozialen Reproduktion von Bildungsungleichheit zu werden (Stamm, 2017).
Auch wenn frühkindliche Bildungsprogramme für benachteiligter Kinder eine Verpflichtung des öffentlichen Bildungswesens werden würden, bleibt die Verwirklichung von Chancengleichheit eine fast unmögliche Herkulesaufgabe. Dahinter steckt das Problem mit dem Namen »Matthäuseffekt«. In der neutestamentlichen Parabel bei Matthäus XXV heißt es im Vers 29: »Denn, wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben, wer aber nicht hat, dem wird noch weggenommen, was er hat.« Gemeint ist damit das Prinzip, dass junge Menschen, die früh schon aufgrund ihrer sozialen Herkunft ein höheres Kompetenzniveau erreichen, auch bei den nächsten Selektionshürden – ganz besonders ans Gymnasium – eine deutlich bessere Chance haben, die Vorteile weiter auszubauen (Stamm, 2011). Eine solche Privilegierung von Chancenstrukturen führt zur Verstärkung bestehender Unterschiede. Privilegierte Kinder haben meist schon früh individualisierte Lernbedingungen, bekommen kompetente Hilfe bei Schulaufgaben und, wenn die Noten nicht erwartungsgemäß ausfallen, zusätzlich Nachhilfe oder Lernstudiounterstützung. Im Gegensatz dazu sind Kinder aus einfachen Verhältnissen auf sich selbst gestellt, haben oft mit Geschwistern ein Zimmer zu teilen und können nur so lange lernen, bis jemand zum Schlafen das Licht ausmacht. Meistens müssen sie alleine mit den Hausaufgaben fertig werden, wenn beide Elternteile Schicht arbeiten oder sie ihnen grundsätzlich kaum helfen können. Auf dieser Basis ist es zumindest erstaunlich, dass auch neueste Studien davon ausgehen, das Prinzip der individuellen Förderung aller Kinder mache es möglich, die Rolle der sozialen Herkunft fast auszuschalten (Maaz & Daniel, 2022, S. 43). Das Phänomen der Matthäuseffekte widerspricht dieser visionären Auffassung. Auch wenn eine konsequente Förderung von Schülerinnen jeglicher Herkunft das allgemeine Leistungsniveau anhebt, dürfte es immer gut situierte Familien geben, die kraft ihrer finanziellen Möglichkeiten und Anstrengungen mehr aus ihren Kindern »herausholen« können.
Diese Situation beeinflusst auch die Erwartungshaltungen von Lehrkräften, die bei Schülerinnen und Schülern aus privilegierten Familien im Durchschnitt deutlich höher ausfallen als bei solchen aus einfach gestellten Familien. Kinder bescheidener sozialer Herkunft, die eigentlich aufgrund ihrer hohen Fähigkeiten einen Anspruch auf einen Platz am Gymnasium hätten, werden bei gleichen Leistungen ungünstiger benotet und haben deshalb schlechtere Chancen, den Übertritt zu schaffen (Tomasik et al., 2018).
Die Chancengerechtigkeit bewegt sich im Teufelskreis.
Literatur
Gerhartz-Reither, S. (2017). Erklärungsmuster für Bildungsaufstieg und Bildungsausstieg. Wie Bildungskarrieren gelingen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Maaz, K. & Daniel, A. (2022). Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Perspektiven und Herausforderungen beim Abbau sozialer Ungleichheiten. In W. Böttcher, L. Brockmann, C. Hack & C. Luig (Hrsg.), Chancenungleichheit: Geplant, organisiert, rechtlich kodifiziert. KBBB-Tagungsband (S. 27–47). Münster: Waxmann. Münster: Waxmann.
Stamm, M. (2016a). Arbeiterkinder an die Hochschulen! Hintergründe ihrer Aufstiegsangst. Dossier 16/2. Bern: Forschungsinstitut Swiss Education.
Stamm, M. (2011). Wer hat, dem wird gegeben? Zur Problematik von Matthäuseffekten in Förderprogrammen. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 3, 511–532.
Stamm, M. (2017). Elterninvestitionen und gesellschaftliche Benachteiligung. Eine Black Box der frühkindlichen Bildungsforschung. Pädagogische Rundschau, 3/4, 293–304.
Stamm, M. (2017). Elterninvestitionen und gesellschaftliche Benachteiligung. Eine Black Box der frühkindlichen Bildungsforschung. Pädagogische Rundschau, 3/4, 293–304.
Tomasik, M. J., Oostlander, J., & Moser, U. (2018). Von der Schule in den Beruf: Wege und Umwege in der nachobligatorischen Ausbildung. Zürich: Institut für Bildungsevaluation.
Vester, M. (2018). Die ständische Kanalisierung der Bildungschancen. Bildung und soziale Ungleichheit zwischen Boudon und Bourdieu. In W. Georg (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten im Bildungssystem. Eine empirisch-theoretische Bestandsaufnahme (S. 13–54). Köln: Herbert von Halem.