erschienen in: Neue Zürcher Zeitung NZZ, 18.04.2023, 17.
Teil II
Unsere Gesellschaft hat bisher kaum Wege gefunden, um den Buben ein angemessenes Verhalten zu ermöglichen. Zu viele Männlichkeitsdogmen beherrschen die Szene, weshalb nicht nur problembehaftete Minderleister, sondern ebenso leistungsorientierte und an sich erfolgreiche Buben die Tendenz haben, ihre Leistungsbereitschaft zu zügeln.
Die Auswirkungen zeigen sich auch beim Übertritt in die Sekundarstufe I respektive ins Gymnasium. Manche Buben wissen nicht so recht, wie sie sich verhalten sollen, weil das Strebertum häufig als weibliches Merkmal gilt. Die einen geben sich als coole, aber faule Typen. Anders die Leistungsbeflissenen, für die es besonders schwer werden kann, trotzdem zur eigenen Leistungsbereitschaft zu stehen. Zwar wollen sie nicht als Streber abgestempelt und in die Mädchenecke gedrängt werden, doch möchten sie in ihren schulischen Interessen und Begabungen anerkannt werden.
Es gibt keine allgemeine Bubenkrise
Was könnten Bildungspolitik und Schulen vor diesem Hintergrund tun? Grundlegend ist zunächst, den Begriff des männlichen Bildungsverlierers nicht zu generalisieren und dramatisierend von einer allgemeinen Bubenkrise zu sprechen. Ebenso wichtig ist der Blick auf Lernumgebung und Lernklima in der Schule. Die Forschung kritisiert immer wieder, sie seien eher auf Mädchen und weniger auf die Bedürfnisse von Buben zugeschnitten. Tatsache ist, dass Autonomieerleben und Bewegung für Buben im Durchschnitt wichtiger sind als für Mädchen. Deshalb sollte der Unterricht auch auf das Haptische, also auf das erforschende, experimentelle und bewegungsorientierte Lernen, ausgerichtet sein. Dies wäre auch konform mit dem Lehrplan 21.
Allerdings sind das lediglich Symptombekämpfungen. Damit sich Buben jenseits traditioneller Stereotype individuell entwickeln können, braucht es neue gesellschaftliche Entwürfe und Modelle von unterschiedlich ausgeprägten Männlichkeiten, die auch die Schule erreichen. Zwar gibt es auf der Basis feministischer Bestrebungen eine Ausweitung weiblicher Lebensentwürfe für Mädchen, doch für Männlichkeitskonzepte fehlen sie weitgehend. Während Mädchen ermutigt werden, sich maskulin konnotierte Verhaltensweisen wie Risikobereitschaft oder Durchsetzungsvermögen anzueignen, sehen sich Buben, die sensibles Verhalten oder Leistungsstreben zeigen, oft mit Stigmatisierung konfrontiert.
Buben brauchen verschiedene männliche Modelle
Allein kann es die Schule nicht richten. Es braucht auch die Gesellschaft – insbesondere Sportvereine und andere institutionelle Freizeitangebote – aber auch und vor allem die Familie. Manche Mütter und Väter erziehen Söhne und Töchter nach wie vor aus der persönlichen Geschlechterbrille. Zwar werden Mädchen zunehmend emanzipierter erzogen, doch mit Blick auf die Buben ist vieles traditionell geblieben. Manchmal vergessen Väter, dass sie für ihren Sohn ein bedeutsames Modell sind. Anstatt verschmitzt zu lächeln und sich damit zu brüsten, in der Kindheit auch Anti-Lerner gewesen und später trotzdem erfolgreich geworden zu sein, sollten sie ihm in erster Linie erklären, wie sie die Kurve gekriegt und sich von der Coolness befreit haben. Oder dann darauf hinweisen, dass sie lernbegierige Schüler waren und auch heute noch das männliche Leistungsstreben nicht als weibliche Tugend verstehen, von der Mann sich abzugrenzen hat. Männliche Modelle, die diesen Perspektivenwechsel vollzogen haben, müssen keineswegs immer Väter oder Lehrer sein, auch Paten, Grossväter, Trainer, in der Jugendarbeit Tätige oder sogar Influencer können positiv verstärkend wirken.