Von Margrit Stamm auf Freitag, 21. April 2023
Kategorie: Blog

Der Druck zum Mittelmass Wie Buben mit männlichen Geschlechtsstereotypien umgehen (Teil I)

erschienen in Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 18.04.2023, 18. 


Teil I


Buben werden beim Schuleintritt häufiger als Mädchen zurückgestellt, bekommen schlechtere Noten und schaffen seltener den Übertritt ans Gymnasium – wohlverstanden bei gleichen kognitiven Fähigkeiten. Auch bei der Diagnose ADHS und beim Schulschwänzen liegen sie vorn. Die Krise der Buben scheint eine Tatsache zu sein, deshalb ist der Begriff «neue Bildungsverlierer» aktueller denn je. Damit verbunden wird die Sorge, die Buben würden zum Problemgeschlecht.

Nicht alle Buben sind Problemschüler

Doch dieses generalisierende Bild des in Schieflage geratenen männlichen Geschlechts deckt die Realität kaum ab. Lange nicht alle Buben sind Verlierer im Bildungssystem, genauso wie sich lange nicht alle Mädchen auf der Überholspur befinden. Der Tunnelblick auf die Buben als Problemschüler greift viel zu kurz. Neben den so genannten «Normalschülern» verdeckt er die Sicht auf eine kaum beachtete Gruppe, die leistungsbeflissenen sehr guten, aber oft unscheinbaren Schüler. Obwohl sich diese beiden Bubengruppen diametral unterscheiden, haben sie eine gemeinsame Herausforderung, die sie jedoch unterschiedlich bewältigen: mit dem Druck zum Mittelmass umzugehen. Die einen geben sich als unmotivierte Minderleister und bleiben unter ihren schulischen Möglichkeiten. Die anderen müssen oft mit dem Strebervorwurf und manchmal auch mit einem Aussenseiter-Image klarkommen.

Wo liegen die Ursachen für die Coolness, welche die Gruppe der minderleistenden Problemschüler an den Tag legt? Oft wird mit dem Frauenanteil in der Lehrerschaft argumentiert, der zwischen 86 Prozent in der Primarschule und 57 Prozent in der Sekundarstufe I variiert. Lehrerinnen würden die Anliegen und Eigenarten der Buben weitgehend ignorieren und seien deshalb schuld daran, dass manche zu schulmüden Leistungsunwilligen würden. Doch empirische Studien weisen nach, dass Buben bei Lehrern weder bessere Leistungen zeigen oder bessere Schulnoten bekommen und auch keine höhere Chance aufs Gymnasium haben als bei Lehrerinnen. Der hohe Frauenanteil kann kaum als Ursache für die männliche Tendenz zum Mittelmass herangezogen werden.

"Anti-Lerner"

Am ehesten dürften stereotype Männlichkeitsvorstellungen und damit verbundene Lernmuster eine Erklärung für dieses Phänomen sein. Im englischen Sprachraum werden solche Buben als «Lads» bezeichnet, als Jugendliche, die in eine auf körperliche Stärke ausgerichtete Peergroup eingebettet und gegenüber Autoritäten rebellisch sind. Solche Verhaltensweisen sind nicht angeboren, sie werden erlernt. Je stärker ausgeprägt dieses laddish behaviour in einer Klasse ist, desto eher werden Buben zu minderleistenden Anti-Lernern. Für sie gilt Schulerfolg als unmännlich, als besonders cool hingegen, wer im Unterricht auffällt und auf die Leistungsbremse tritt. Sie passen weniger auf, stören den Unterricht, machen widerwillig Hausaufgaben und sind überzeugt, dass die Beflissenheit beim Lernen eine Angelegenheit der Mädchen ist. Dieses Verhalten fördert das maskuline Image und steigert das Ansehen in der Peergroup. Am meisten Bewunderung bekommen solche Buben, wenn sie ihr Fussballteam zum Sieg führen oder mit einem breiten Ich-kann-mir-alles-erlauben-Grinsen als erste die Yeezy Foam Runner von Kanye West tragen.

"Streber" Die Kehrseite der Medaille sind gute Schüler, die zu den Klassenbesten gehören. Auch sie haben mit dem Druck zum Mittelmass zu kämpfen, denn es gibt beim männlichen Geschlecht einen deutlichen Zusammenhang zwischen guten Noten und Unbeliebtheit. Im Gegensatz zu den USA, Israel oder Kanada fürchten hierzulande 35 Prozent der Buben mit guten bis sehr guten Leistungen den Strebervorwurf. Um nicht als Klugscheisser etikettiert zu werden, stehen sie aus Angst vor Hänseleien weniger dazu, dass sie eigentlich fleissig sind und Interesse an guten Leistungen haben. Bei Mädchen funktioniert dies anders. Wenn sie im Unterricht mitarbeiten und gute Noten haben, machen sie sich keinesfalls unbeliebt, wohl aber, wenn sie den Unterricht stören. Deshalb gilt ein Grossteil der Mädchen als fleissig und seriös – oft aber auch als überangepasst.

Leistungsstarke Bubenhaben dann Vorteile, wenn es noch andere Hochleister in der Klasse gibt. Wenn sie neben vielen Anti-Lernern die einzigen Streber sind, wirken ihre guten Noten suspekt und sind mit der Gefahr verbunden, in eine Aussenseiterrolle zu geraten. Sind sie zudem etwas linkisch oder unsportlich, werden sie besonders häufig zur Zielscheibe von Häme und Spott. Darum geraten manche in ein Dilemma. Entweder bleiben sie ihrem Ehrgeiz treu oder dann müssen sie sich als Einzelgänger akzeptieren. Viele versuchen, ihren Status erträglicher zu gestalten, indem sie Klassenkameraden bei den Hausaufgaben helfen, den aussichtlosen Fällen Nachhilfe geben oder die Sitznachbarn in Prüfungen abschreiben lassen. Es erstaunt folglich kaum, dass ihre Noten im Verlaufe der Schulzeit nicht selten sinken und sie zunehmend dem Mittelmass folgen.

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