Das Gymnasium ist so beliebt wie nie. In den letzten Jahren ist die Quote um ca. 10 Prozent gestiegen. In urbanen Räumen wie Zürich oder Basel beträgt sie bis zu 50%, schweizweit ca. 20 Prozent. Das Gymnasium die neue Volksschule der Zukunft? Genau deswegen brodelt es in der Bildungspolitik. Die steigende Gymnasialquote ist vielen ein Dorn im Auge. Was steckt dahinter? Ist es tatsächlich so, wie man immer wieder hört, dass die Gymnasien mit schlecht qualifizierten Jugendlichen gefüllt werden, die ebenso gut eine Berufslehre absolvieren könnten? Degradiert diese Akademisierung die Berufsbildung tatsächlich zu einem System zweiter Klasse.
Problematisch ist zunächst einmal, dass man sich den Zugang zum Gymnasium, der meist über eine Aufnahmeprüfung oder über einen Notendurchschnitt erfolgt, auch erkaufen kann. Es wundert deshalb kaum, dass Lernstudios und Nachhilfestunden zu einer riesigen parallelschulischen Lernindustrie geworden sind. Eine solche ‚Flucht‘ ins Gymnasium ist deshalb sozial ungerecht. Und dem Gymnasium nützt sie nur um den Preis nivellierender Tendenzen. Zumindest zeigt dies die Evaluation der Maturitätsreform. Maturanden haben Defizite in Mathematik und der Erstsprache (Deutsch/Französisch/Italienisch).
Dass sich das Gewerbe gegen einen breiteren Zugang zum Gymnasium wehrt, ist verständlich. Es befürchtet, dass gute Schüler ins Gymnasium abwandern und anforderungshohe Lehrstellen nicht mehr besetzt werden können. Tatsache ist, dass die steigende Gymnasialquote der Berufsbildung die dringend benötigten leistungsstarken Auszubildenden nimmt. Das sind jedes Jahr ca. 10 bis 15 Prozent. Bereits heute müssen Betriebe für gewisse Branchen Auszubildende im Ausland rekrutieren. Im Kanton Aargau kommen aktuell etwa deren 70 aus Deutschland. Der Attraktivitätsverlust der traditionellen Berufslehre ist somit eindrücklich.
Es gibt aber auch ein anderes Problem, das bisher kaum in den Blick geraten und schon gar nicht diskutiert worden ist: dass der Zugang zum Gymnasium und zur Berufslehre sehr unterschiedlich ist. Wer eine Lehrstelle will, muss viel mehr und Umfassenderes leisten als diejenigen, welche den Sprung ins Gymnasium schaffen wollen. Während hier ein bestimmter Notendurchschnitt genügt, erfordert der Weg in die Berufsbildung vom Jugendlichen ein enormes Engagement: Schnupperlehre, Bewerbungen zu schreiben, sich in Vorstellungsgesprächen oder Assessments erfolgreich bewähren sowie Testverfahren wie Multi- und Basischecks absolvieren.
Was bedeutet dies? Erstens, dass die Hürden ausgeglichener sein sollten. Das Hauptproblem ist nicht, dass wir zu wenig oder zu viel Gymnasiasten haben, sondern ein Zugangssystem, das Jugendliche beim Eintritt in die Berufslehre benachteiligt und solche ins Gymnasium bevorzugt. Zweitens, dass unser durchlässiges Bildungssystem den Eltern und auch den Jugendlichen selbst viel deutlicher vor Augen geführt werden sollte. Viel zu wenige wissen, dass jederzeit eine Veränderung eines eingeschlagenen Weges möglich ist. So können Maturanden nach einem einjährigen Praktikum eine Fachhochschule besuchen. Oder nach der Lehre mit Berufsmaturität und einer einjährigen Passerelle ein ETH- oder Universitätsstudium aufnehmen. Und Absolventen einer Fachhochschule können als Bachelor an eine Uni oder ETH gehen und dort das Masterstudium aufnehmen. Heute sind fast alle Übergänge möglich, die man sich nur vorstellen kann.
Nur, sind das Argumente, die ziehen, wenn das Gymnasium dermassen in den Köpfen der Eltern drin ist? Wenn es bald gar als neues Bürgerrecht verstanden wird? Also abwarten und Tee trinken? Den Kampf um einen Platz am Gymnasium zu einem Kampf aufs Messer und die Berufsbildung zur zweiten Wahl werden lassen? Oder vielleicht doch mehr junge, begabte Ausländer aus Griechenland, Spanien oder Portugal für eine berufliche Ausbildung einwandern lassen?