Erschienen in: NZZ, 5. Februar 2014, S. 21
In letzter Zeit berichten Kindergartenlehrkräfte immer wieder von eigenartigen Erfahrungen: Sie müssen zunehmend Kinder unterrichten, die kaum Deutsch können und auch einfache Fragen nicht verstehen. Viele dieser Kleinen haben jedoch vorher eine Krippe, eine Spielgruppe oder ein gezieltes Förderprogramm besucht, oft zusammen mit ihren Müttern.
Wie kann das sein? Weshalb haben sich die Deutschkenntnisse solcher Kinder nicht markant verbessert? Bemüht sich das Personal zu wenig um sie, versagen die Angebote oder sind unsere Ansprüche zu hoch?
Dass eine frühe Sprachförderung eine der wichtigsten integrationspolitischen Aufgaben darstellt, ist weitgehend unbestritten. Keine Zeit eignet sich besser als die Vorschuljahre, um die Bildungschancen für benachteiligte Kinder zu erhöhen. Wartet man bis zum Schuleintritt, ist es meist zu spät, weil die Unterschiede zu gross sind. In den letzten Jahren haben viele Kantone und Gemeinden in frühe Sprachförderung investiert und es gibt inzwischen einige Leuchttürme. Insgesamt sind wir auf dem richtigen Weg.
Somit fehlt es keinesfalls an Engagement. Das eigentliche Problem liegt anderswo: erstens in der oft belegten Tatsache, dass Kinder, die eine Sprachförderung am nötigsten hätten, gar kein Angebot besuchen. Zweitens, dass wir nicht wissen, wie Sprachförderung gestaltet werden soll, damit sie tatsächlich wirkt. ‚Wirkt' meint dabei nicht, dass die Fachkräfte oder die Eltern mit dem Programm zufrieden sind, sondern, dass Kinder deutliche sprachliche Fortschritte machen und beim Kindergarteneintritt dem Unterricht folgen können. Leider liegen hierzu nur vereinzelt Evaluationen vor. Das, was sie zu Tage fördern, ist eher enttäuschend: Ob ein Kind ein Sprachförderangebot besucht oder nicht, spielt häufig kaum eine Rolle. Die Unterschiede sind minim.
Wo liegen die Ursachen für diese Problematik? Zunächst darin, dass bildungsferne Eltern solchen Angeboten häufig skeptisch gegenüberstehen. Von Bedeutung ist auch das Phänomen, das die Bildungsforschung «Segregation» nennt: dass sich solche Familien zunehmend auf bestimmte Wohngebiete konzentrieren und ihre Kinder deshalb mit der deutschen Sprache kaum in Kontakt kommen. Dies trifft auch dann zu, wenn sie in ihrem Quartier eine Krippe oder eine Sprachspielgruppe besuchen, weil die grosse Mehrheit der anderen Kinder ebenfalls kein Deutsch spricht. Es fehlt ihnen das «Sprachbad». Weder beim Versteckis spielen noch im Sandkasten können sie spielerisch deutsche Begriffe lernen und sich mit unserer Alltagssprache vertraut machen.
Ein besonderes Problem ist, dass häufig nur ein einziges Angebot vorhanden ist und dieses für alle Kinder mit Sprachdefiziten gelten muss. Folglich können gewisse Kinder davon gar nicht profitieren. Denn solche mit Spracherwerbsstörungen würden eine gezielte logopädische Therapie brauchen. Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen hätten hingegen ein Förderprogramm nötig, das ihnen systematisch hilft, die deutsche Sprache zu erlernen. Schliesslich gibt es einheimische Kinder mit eingeschränkten Sprachkompetenzen. Sie brauchen ein kreatives und anregendes Programm, das auf die Erweiterung und Verbesserung ihrer Sprachkompetenzen abzielt.
Umfragen zeigen, dass sich nur wenige Fachkräfte im Spracherwerb auskennen. Es ist deshalb verständlich, dass es ihnen schwer fällt zu erkennen, ob ein Kind nun eine Sprachförderung braucht oder eher eine Sprachtherapie. Häufig fehlt Fachkräften zudem ein Sprachbewusstsein. Statt anspruchsvollen Sätzen und differenzierten Begriffen verwenden sie oft einfachste Redewendungen in der Hoffnung, die Kinder würden sie dann besser verstehen.
Was ist zu tun? Mit Sicherheit wäre es angesichts der nicht besonders erfreulichen Situation falsch, einfach noch mehr Angebote zu schaffen und die öffentlichen Mittel zu erhöhen. Angemessener sind kantonale Strategien mit verbindlichen Vorgaben sowie eine systematische Überprüfung der Entwicklungsfortschritte der Kinder. Auch die Aus- und Fortbildung des Personals muss stärker in den Blick genommen werden. Es sollte nicht nur über mehr linguistisches Fachwissen verfügen, sondern in erster Linie auch in praktischen Situationen einüben können, was in der Sprachpraxis mit dem Kind zählt: langsames, zugewandtes Sprechen, geduldiges Zuhören, in vielfältige Alltagsrituale eingebettete Förderung statt Einzelworttrainings sowie variationsreiche und durchaus komplexe sprachliche Äusserungen.
In einer unserer Umfragen haben acht von zehn Personen, die in Krippen arbeiten, angeben, gar keine Sprachförderung zu betreiben. Es fehle ihnen schlicht die Zeit dazu. Frühe Sprachförderung muss deshalb im Zeitbudget des Personals einen Platz bekommen, in der Verantwortung jedoch Chefsache sein. Sie muss in kleinen Gruppen und in geeigneten Räumen stattfinden können und das Personal sollte auf Begleitunterstützung durch speziell für Sprachförderung ausgebildete Fachkräfte zählen können.
Schliesslich ist mehr Realitätssinn gefordert. Frühe Sprachförderung allein kann keine Wunder vollbringen. Vielmehr ist die Familie der wichtigste Förderort. Deshalb muss sie immer in frühe Sprachförderung einbezogen werden. In dieser Hinsicht hapert es aber besonders. Viele Programme scheitern nicht zuletzt, weil die Teilnahme der Eltern freiwillig ist. Soll Sprachförderung in sichtbar bessere Deutschkenntnisse der Kinder münden, kommen wir nicht umhin, zukünftig über die Verbindlichkeit solcher Angebote für Eltern zu diskutieren.
Nicht nur die frühe, auch die schulische Sprachförderung wäre zu überdenken. Obwohl wir enorme Summen in sie stecken, verfügen viele Jugendliche nicht über das notwendige ‚Bildungsminimum'. Zwar ist es löblich, dass die Schweizer Armee ihren Rekruten Sprach- und Rechtschreibekurse anbietet und diese offenbar ein Renner sind. Aber leider sind sie das beste Beispiel dafür, wie wenig wirksam Sprachförderung in den letzten Jahren gewesen ist.