erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 22.08.2022, 4.
In diesen Tagen beginnen rund 70'000 junge Menschen eine Berufslehre. Etwa 14'000 von ihnen werden den Lehrvertrag vorzeitig auflösen. Bei den Männern dürften es gut 26 Prozent sein, bei den Frauen etwa 20 Prozent. Zwar haben wir uns an solche Statistiken gewöhnt. Doch angesichts des Fachkräftemangels ist die Auflösung von Lehrverträgen ein beachtliches Problem.
Hohe Auflösungsquoten der Lehrverträge in geschlechtsatypischen Berufen
Ganz besonders gilt dies für Lehrvertragsauflösungen in unkonventionellen, d.h. geschlechtsatypischen Berufen. In den männerreichsten Berufen betrug die Auflösungsquote für Frauen in den letzten Jahren durchschnittlich etwa 40 Prozent, in den frauenreichsten Berufen für Männer 42 Prozent. Bei den Floristen waren es ungefähr 53 Prozent, bei den Automobilmechatronikerinnen 63 Prozent.
Viele Betriebe haben den Wunsch, verstärkt Mädchen für einen typischen Männerberuf und Knaben für einen typischen Frauenberuf zu gewinnen. Seit Jahren werden Kampagnen initiiert, die mit Kleinkindererziehern oder Malerinnen als Modelle für weniger «gender segregation» werben. Trotz solcher Bemühungen hat sich wenig geändert. Ein Hauptgrund dürfte sein, dass die hohen Auflösungsquoten vor allem aus der Sicht der Betriebe diskutiert werden. Am häufigsten beklagen sie, Frauen würden in Männerberufen den geforderten körperlichen Einsatz nicht erbringen und Männer in Frauenberufen nicht sensibel genug sein im Umgang mit Individuen.
Diskriminierungserfahrungen
Die Ausbildungserfahrungen von Aussteigenden sprechen allerdings eine andere Sprache. Manche berichten von Diskriminierung seitens der Betriebe, doch genauso seitens der Kundschaft. Genannt werden alltägliche, oft kränkende Bemerkungen («Wow, das hast du als Mann aber gut hingekriegt»), Abwertungen («Du kannst nichts dafür, dass du am falschen Ort bist») oder Vorurteile genannt («Frauen gehören nicht ins Autogewerbe, Männer nicht in die Kleinkindererziehung»).
Mit Sicherheit haben diejenigen Lernenden einen Vorteil, die gegenüber Diskriminierungstendenzen schlagfertig sind und Humor haben. Gleichwohl sind sie in einer Minderheitenposition, was zu Stress und Geschlechtsrollenkonflikten führen kann. Dies ist bereits in der Schnupperlehre von Bedeutung, weil negative Erfahrungen dazu führen, dass sie trotz Interesse und Begabung einen geschlechtstypischen Beruf oder dann eine Fachmittelschule wählen.
Zu viele Lernende steigen wieder aus
Was lässt sich daraus schliessen? Dass die Überzeugung falsch ist, die Geschlechterverhältnisse in der beruflichen Grundbildung würden sich schnell angleichen, wenn sich mehr junge Menschen für einen atypischen Beruf entscheiden. Tatsache ist eher, dass zu viele von ihnen wieder aussteigen. Offenbar sind Kampagnen und betriebliche Bemühungen zu einseitig, wenn sie sich lediglich um mehr Frauen in Männerberufen und um mehr Männer in Frauenberufen bemühen, die schwierigen Ausbildungsbedingungen dieser jungen Leute aber kaum berücksichtigen.
Notwendig ist eine Debatte zu den überdurchschnittlich hohen Lehrvertragsauflösungen in geschlechtsatypischen Berufen. Gefragt ist auch mehr Selbstkritik von Betrieben, weil sie die Ursachen oft nur bei den Ausbildenden orten, aber nicht ebenso bei sich selbst und den institutionellen Mechanismen (Normen, Regeln, Routinen). Glücklicherweise gibt es nicht wenige Best Practice-Betriebe, aber immer noch viele, welche über die mangelnde Ausbildungsreife junger Menschen klagen, gleichzeitig jedoch den Kopf in den Sand stecken.
Gewünscht: Mehr Unterstützung von Vorgesetzten
Der Fachkräftemangel zwingt Betriebe zu einem selbstkritischeren Blick. Es braucht eine Unternehmenskultur mit Vorgesetzten, die mit Lernenden ins Gespräch kommen, sie vor Abwertungen und Vorurteilen auch seitens der Kundschaft schützen und ihre Schlagfertigkeit gegenüber dummen Sprüchen stärken. Junge Menschen, die einen atypischen Beruf ergreifen, brauchen die Unterstützung von Vorgesetzten, damit sie hervorragende Berufsleute werden können.