erschienen in: NZZ, 13.06.2019., 10.
Die Erwartungen an die Auswirkungen des Frauenstreiks vom 14. Juni sind hoch. Das männerdominierte Parlament soll weiblicher, Lohngleichheit selbstverständlich und der Frauenanteil in Chefetagen sowie Verwaltungsräten höher werden. Ebenso dürfen Kinder zukünftig nicht mehr das Aus der Karriere bedeuten. Weil Geschlechterungleichheit seit Jahren die Marschrichtung der Gleichstellung von Männern und Frauen bestimmt, hoffen wir, dass die Kilometer, die noch zu gehen sind, nun endlich deutlich abnehmen.
Trotz dieser Euphorie wird eine wichtige Frage kaum diskutiert: Weshalb ist es möglich, dass Frauen so lange im Hintertreffen geblieben sind, obwohl ja die Gleichstellungsbemühungen auch bemerkenswerte Erfolge verzeichnen? Mädchen haben das männliche Geschlecht im Schul- und Ausbildungserfolg überholt, Frauen schliessen im mittleren Management zu den Männern auf, in der Anzahl der Doktorate haben sie diese überholt. Und wir haben es auch geschafft, auf einen Streich zwei neue Bundesrätinnen zu bekommen. Die weibliche Kompetenz ist nie stärker thematisiert worden als heute. Trotzdem gelangen Frauen deutlich seltener an die Spitze.
Mächtige innere Richter
Ein Grund sind Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstzweifel und Selbstvertrauen, die bereits in Kindheit und Jugend erworben werden. Frauen zweifeln mehr an sich als Männer und haben auch weniger Selbstvertrauen. Doch für den Berufserfolg sind geringe Selbstzweifel und ein hohes Selbstvertrauen ebenso wichtig wie die berufliche Kompetenz. Selbstzweifel sind mächtige innere Richter, die als roter Faden die Berufsbiografie vieler Frauen lenken. Dieses bereits etwas in die Jahre gekommene empirische Ergebnis wird zu selten zur Kenntnis genommen. Glücklicherweise gibt es auch eine gute Nachricht: Selbstzweifel können bearbeitet, und mehr Selbstvertrauen kann gelernt werden. Allerdings braucht dies Zeit und Kontinuität. Wie eine Studie der Universität Heidelberg zeigt, reichen ein paar kurze Coachings nicht als Imprägnierung gegen die Wetterlage in Betrieben, Hochschulen und Institutionen, genauso wenig die Girls' Days. Sie ermöglichen zwar den Mädchen einmal pro Jahr, an Autos zu schrauben oder zu erleben, wie ein Softwareprogrammierer arbeitet, aber deshalb werden sie trotzdem nicht resilienter.
Viele Selbstzweifel und wenig Selbstvertrauen bei den Frauen und wenig Selbstzweifel sowie etwas zu viel Selbstvertrauen bei den Männern – das ist nicht nur der grosse Graben zwischen den Geschlechtern, sondern ein spezifischer Notstand für die Frauen. Natürlich ticken nicht alle Frauen so, und es gibt auch Männer mit vielen Selbstzweifeln. Doch eine beachtliche Anzahl von Metaanalysen dokumentieren dieses Klischee immer wieder. Besonders zu denken gibt eine neue Studie der Arizona State University, welche diesen Sachverhalt auch für Millenials nachweist, die um die Jahrtausendwende geboren sind. Eigentlich müsste man davon ausgehen, dass sich die Gleichstellungsbemühungen der letzten Jahrzehnte wegen der moderneren häuslichen Erziehung nicht nur im Bildungserfolg der Mädchen, sondern auch in ihrem höheren Selbstvertrauen niederschlagen. Dem ist aber kaum so. Obwohl junge Frauen deutlich selbstbewusster auftreten als je zuvor, formuliert die Hälfte von ihnen Selbstzweifel, wenn es um ihre Leistungsfähigkeit geht, währendem es bei den jungen Männern nur ein Drittel sind. Zudem stufen junge Frauen ihre Intelligenz im Gegensatz zu Männern im Durchschnitt niedriger ein, selbst wenn es zwischen ihnen objektiv gar keinen Unterschied gibt.
Man könnte argumentieren, solche Unterschiede seien auf die Biologie zurückzuführen. Heute wissen wir allerdings, dass der Mensch aus einem Konglomerat von genetischen Anlagen, umweltbedingten Einflussfaktoren und dem, was er selbst aus sich macht, geprägt wird. Deshalb ist die Hauptfrage eine andere: Was macht eine Gesellschaft aus solchen Unterschieden? Oder lässt sie diese ausser Acht? Erst dadurch, wie Kinder von Eltern, Lehrkräften, Peers und Medien beeinflusst werden, prägen sich unterschiedliche Veranlagungen in Gegenwart und Zukunft aus – oder eben nicht.
Gute Noten allein helfen nicht
Am grössten ist der Einfluss der Familie, obwohl sie gegenüber Modernisierungsprozessen am resistentesten ist. Zwei Drittel der Eltern vermitteln durch ihr Modellverhalten den Töchtern relativ geschlechtstypische Verhaltensmechanismen und empfehlen ihnen einen Beruf, der weniger auf finanzielle Eigenständigkeit als auf die Vereinbarkeit der Rolle als Berufstätige und Mutter ausgerichtet ist. Noch relevanter ist der überbehütende Erziehungsstil vieler Mütter. Weil Mädchen im Vergleich zu Jungen aufgrund geschlechtshormoneller Einflüsse eine tendenziell bessere Fähigkeit haben, ihre Emotionen zu kontrollieren, reagieren sie weniger rebellisch auf Überbehütung und halten sich an Aufforderungen zur Sozialverträglichkeit. Diese Überangepasstheit müsste uns grundsätzliche Sorgen bereiten, weil ein solches Verhalten als Nährboden für die Entwicklung eines geringeren Selbstvertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit dient. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Mädchen mehr Erfolge und bessere Rückmeldungen als Jungen brauchen, bis sie sich etwas zutrauen.
Manchmal wird weibliche Anpassungsfähigkeit in der Schule verstärkt. Ein «gutes» Mädchen gilt als sozial integer und vermittelnd, aber kaum als eines, das durchsetzungsfähig, risikobereit oder schlagfertig ist. In dieser Hinsicht haben Jungen Vorteile. Zwar bekommen sie durchschnittlich schlechtere Noten als Mädchen und auch achtmal mehr Schelte und Strafe, wie eine Untersuchung des Berlin Instituts zeigt. Doch dadurch lernen sie, Misserfolge in Kauf zu nehmen und Misserfolgserträglichkeit zu lernen – Merkmale, die sie auf das spätere Berufsleben vorbereiten. Solche Merkmale sollten deshalb geschlechtsneutrale Merkmale werden, weil sie für den Abbau von weiblichen Selbstzweifeln und den Aufbau von Selbstvertrauen wichtig sind. Sie gehören in jedes Förderprogramm junger Frauen zur Beseitigung der geschlechterbezogenen Ungleichheit.
Förderprogramme müssen früh ansetzen, damit Mädchen bereits zu Beginn der Berufsfindungsphase ein wichtiges Gesetz im Beruf-Karriere-Dschungel lernen: zu erkennen, dass Fähigkeiten zu haben nicht mit kompetent sein gleichgesetzt werden kann. Jungen Frauen ist es mehrheitlich wichtig, die Schule mit guten Noten abzuschliessen, vollgepackt mit Spezial- und Weltwissen und stolz darauf zu sein, dass Eltern und Lehrkräfte mit ihnen zufrieden sind. Doch irgendwann zwischen Ausbildung und Berufstätigkeit ändern sich die Spielregeln. Dann schlittern junge Frauen in ein Berufsleben, das sie nicht mehr für sehr gute Französischkenntnisse lobt oder für ihre Perfektion und Seriosität. Plötzlich gibt es andere Erfordernisse, um nach oben zu gelangen, beispielsweise ein gutes Selbstvertrauen, gepaart mit wenig Selbstzweifeln. Doch weil junge Frauen realisieren, dass ihnen diese Merkmale fehlen, nehmen ihre Selbstzweifel weiter zu. Damit kämpfen sie oft viele Jahre, auch dann noch, wenn sie beachtliche Karrieren machen. Sie stellen ihr Licht permanent unter den Scheffel und getrauen nur, sich ins Rampenlicht zu begeben, wenn sie sich zu hundertfünfzig Prozent kompetent fühlen. Während Männer oft im SRF Club debattieren, die gar nicht so viel dazu beizutragen haben, trotzdem jedoch wenig Selbstzweifel haben, sagen viele Frauen eine Teilnahme ab, weil sie sich nicht kompetent genug fühlen und Angst haben, man könnte ihre Inkompetenz entdecken.
Heroisierungen vernebeln nur
Der Frauenstreik soll mit positiven Folgen in die Geschichte eingehen. Doch deswegen darf die entwicklungspsychologische Perspektive nicht vergessen werden. Die Kindheit prägt! Es gilt, mit Massnahmen bereits im Kindesalter anzusetzen, aber nicht lediglich jenseits von Pink und Blau, sondern mit einer Erziehung, die soziale Kompetenzen nicht weiterhin und überdimensional den Mädchen zuordnet, sondern sie vor allem darin unterstützt, Risikobereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit und Eigenwilligkeit zu entwickeln.
Damit liesse sich auch eine problematische Botschaft mancher Gleichstellungsdebatten neutralisieren, welche die Frauen im Vergleich mit den Männern als das moralisch integre Geschlecht bezeichnen. Solche Heroisierungen vernebeln die tatsächlichen weiblichen Probleme und belasten Mädchen, in allem vorbildlich sein und Anpassungsbereitschaft zeigen zu müssen. Es wäre für ihre Zukunft fatal, wenn sie Selbstvertrauen und den Abbau von Selbstzweifeln vor einem solchen Hintergrund entwickeln müssten.