Nicht nur die Begabung, sondern vor allem die soziale Herkunft entscheidet, wer es ans Gymnasium schafft, sagt Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm. Sie hat untersucht, welche Kinder aus einfachen Verhältnissen es trotzdem schafften. So wie sie.
Annika Bangerter 11.12.2024in der Aargauer Zeitung/ die Nordwestschweiz
Die Bildungsexpertin Margrit Stamm hat zu Arbeiterkindern geforscht und ein Buch dazu geschrieben.
Sie haben über Arbeiterkinder geforscht und diese Studienergebnisse nun als Buch veröffentlicht. Damit sind Sie zu Ihren Wurzeln zurückgekehrt. Haben Sie sich in den Biografien der Befragten wiedererkannt?
Margrit Stamm: Ja, sehr! Wie sie stamme ich aus einfachen Verhältnissen. Mein Vater war Sattler und Tapezierer, meine Mutter war als Serviceangestellte und Akkordarbeiterin tätig. In der Schule galt ich als eine bildungsferne Schülerin mit wenig Potenzial. Die meisten Lehrpersonen erwarteten nicht viel von mir. Damit haderte ich, weil ich mich als wissensdurstig wahrnahm. Als Arbeiterkind, das den Aufstieg geschafft hat, bin ich auch insofern typisch, weil ich einen unbändigen Willen und immer ein Ziel vor Augen hatte sowie unglaublich viel arbeitete.
Wie sieht diese aus?
Das ist die Aufstiegsangst und damit die Zweifel, den Erfolg tatsächlich verdient zu haben. Diese Gefühle tauchen bis heute auf. Wenn ich etwa ein neues Forschungsprojekt anpacke, drängt sich der Gedanke auf: Schaffe ich das oder scheitere ich diesmal? Mit zunehmendem Alter habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich weiss inzwischen, dass Angst und Selbstzweifel rund eine Woche anhalten und dann wieder verschwinden.
Im Niedriglohnbereich sind viele Migrantinnen und Migranten tätig. Weshalb haben Sie deren Kinder explizit von der Studie ausgeschlossen?
Weil sie bereits gut untersucht sind. Zudem unterscheidet sich ihr familiärer Hintergrund stark von jenem der Schweizer Arbeiterkinder. Migrantinnen und Migranten sind oft sehr ehrgeizig und wollen, dass ihre Kinder ein besseres Leben führen als sie selbst. Man darf nicht vergessen: Auch wenn sie in der Schweiz Taxi fahren, haben viele von ihnen in ihrem Herkunftsland eine gute Ausbildung genossen. Bei den einheimischen Arbeiterkindern gibt es hingegen viele Eltern, die ihrem Kind vermitteln: Du musst nicht besser werden als wir.
Sind Sie nicht stolz, wenn ihr Kind es ans Gymnasium schafft?
Fast alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Doch die Ansichten darüber, was das Beste ist, gehen auseinander. Natürlich gibt es sozial einfach gestellte Eltern, die sich über ihr fleissiges Kind mit den guten Noten freuen. Viele der Befragten gaben jedoch an, dass ihre Eltern dem Gymnasium sehr zurückhaltend bis abweisend gegenüberstanden. Oft, weil sich ihnen der Nutzen nicht erschloss. Es dominiert die Haltung: Wer ans Gymi geht, weiss nicht, was richtiges Arbeiten bedeutet. Deshalb müssen die Eltern frühzeitig ins Boot geholt und aufgeklärt werden.
Machen das die Lehrpersonen?
Viel zu selten. Leider kommt es häufig vor, dass Lehrpersonen den Eltern abraten, ihr Kind aufs Gymnasium zu schicken, obwohl es sehr gescheit, willig und interessiert ist. Sie begründen dies damit, dass die Eltern ihm sowieso nicht helfen können.
Wie viele Schweizer Kinder kommen aus bildungsfernen Haushalten?
In einer Klasse sitzen schätzungsweise zwei bis drei. Diese Zahl kann aber je nach Schule und Quartier stark variieren. Obwohl es einige sind, bilden sie eine Gruppe, die bislang vergessen ging.
Worin unterscheidet sich ihr Aufwachsen zu anderen Kindern?
Wer aus privilegierten Verhältnissen kommt, wächst in der Regel sehr behütet auf und wird förderorientiert erzogen. Diesen Kindern wird zu Hause vorgelesen, sie haben ein eigenes Zimmer und oft früh einen Laptop. Kinder aus einfachen Verhältnissen sind weniger beaufsichtigt und häufiger auf sich gestellt. Deshalb sind sie vergleichsweise freier und spielen mehr draussen. Sie teilen sich mit ihren Geschwistern ein Zimmer und müssen ihre Hausaufgaben am Küchentisch machen. Ihr Aufwachsen führt dazu, dass sie einen anderen Habitus als Kinder aus bildungsaffinen Familien entwickeln. Das heisst, sie treten anders auf.
Wie zeigt sich das konkret?
Diese Kinder sind teilweise zwar sehr interessiert und wissbegierig, verfügen aber über keinen grossen Wortschatz oder Weltwissen. Das hat zur Folge, dass Lehrpersonen diesen Kindern weniger zutrauen. Wenn eines vor ihnen steht, das ihnen nicht in die Augen schaut, scheu oder zum Teil grob ist, werten Lehrpersonen das in der Regel negativ, ohne die familiäre Sozialisation zu berücksichtigen.
In Ihrer Studie haben Sie Arbeiterkinder untersucht, die dennoch den Sprung ans Gymnasium geschafft haben. Wer sind sie?
Wir haben rund 300 Personen interviewt, wovon die meisten heute zwischen 30 und etwa 45 Jahren alt sind. Zwei Drittel von ihnen verfügt über einen universitären Masterabschluss. Darunter ist beispielsweise ein Physiker, eine Biochemikerin, eine Pharmazeutin oder eine Psychologin.
Worin sehen die Befragten den Schlüssel für ihren Erfolg?
Den einen Bildungsaufsteiger oder die eine Bildungsaufsteigerin gibt es nicht. Interessant ist aber, dass der Grossteil der Befragten ihren Erfolg auf drei Komponenten zurückführt: Begabung, Fleiss und Hartnäckigkeit. Der persönliche Drang, erfolgreich zu sein, spielt eine grosse Rolle. Externe Unterstützung hatten die Befragten – im Vergleich zu den meisten Kindern aus bildungsaffinen Familien – weitgehend nicht. Deshalb haben sie für den Übertritt ans Gymnasium extrem viel gearbeitet und diesem Ziel oft alles untergeordnet.
Woher kommt dieser Wille?
Das kann nicht allgemein beantwortet werden. Einige haben eine intrinsische Motivation, andere haben einen gewerkschaftlich organisierten Vater oder einen Jungscharleiter, der an sie geglaubt hat.
Vielen Arbeiterkindern gelingt der Aufstieg trotz Begabung nicht. In Ihrem Buch schreiben Sie: Nicht der Grips, sondern die soziale Herkunft spielt die entscheidende Rolle, wer es ans Gymnasium schafft. Was muss sich daher ändern?
Da ich immer wieder falsch verstanden werde, möchte ich vorausschicken: Mir geht es nicht darum, die Gymnasialquote zu erhöhen. Mein Anliegen ist es, dass bei jedem Kind die Neigungen, Interessen und Fähigkeiten den Ausschlag dafür geben, welche Laufbahn es einschlägt. Zahlreiche Studien haben bereits gezeigt, dass es am Gymnasium einige Kinder aus gut situierten Elternhäusern gibt, die eigentlich nicht dorthin gehören. Sie erhalten aber Nachhilfe und eine familiäre Unterstützung, die bis zu Rekursen führt, wenn sie zu scheitern drohen. Dies, weil für ihre Eltern nur der akademische Weg infrage kommt.
Wie lässt sich das durchbrechen?
Als Erstes müssen Akademikerinnen und Akademiker die Berufslehre nicht nur loben, sondern auch beim eigenen Kind unterstützen. Umgekehrt müssen die Lehrpersonen den Arbeiterkindern mit einem positiven Blick begegnen und eine Sensibilität für deren Habitus entwickeln. Damit meine ich, dass sie beispielsweise nicht zu sehr auf den kleinen Wortschatz fokussieren, sondern die Potenziale der Kinder ausmachen und sie darin positiv bestärken. Gewisse Teilnehmende haben in den Interviews gesagt, sie wissen noch ganz genau, wann eine Lehrperson sinngemäss zu ihnen gesagt hat: «Du schaffst das, du kannst das, ich unterstütze dich.»
Im Sinne eines Schlüsselmoments?
Ja. Kinder in ihren Potenzialen zu stärken, kann Welten verändern. Jeder Mensch muss wissen, dass er Stärken hat. Das ist zentral für das Selbstwertgefühl. Des Weiteren müssen begabte Arbeiterkinder ähnliche Bedingungen wie Kinder aus gut situierten Verhältnissen erhalten. Nur das ist Chancengerechtigkeit, wenn man die Nachteile grösstmöglich zu mindern versucht. Es kann nicht sein, dass intellektuell begabte Arbeiterkinder alles aus eigener Kraft schaffen müssen. Deshalb empfehle ich ein Mentoratsprogramm ab der Primarstufe.
Wie könnte ein solches Förderprogramm konkret aussehen?
Eine Möglichkeit wäre es, den Kindern gut ausgebildete Seniorinnen und Senioren zur Seite zu stellen. Als Mentorin oder Mentor hätten sie die Schlüsselrolle, den Kindern schon früh Visionen zu erlauben und ihnen zu helfen, diese auch umzusetzen – etwa, indem sie ihnen beim Schulstoff helfen. Wichtig bei einem solchen Mentoratsprogramm ist, dass es sich explizit an Kinder richtet, die keine unterstützenden Ressourcen zu Hause haben, aber viel mitbringen und sich schon vieles selber angeeignet haben.
Wie hat sich durch den Bildungsaufstieg das Verhältnis zwischen den Befragten und ihren Familien verändert?
Ein Viertel der Befragten hat sich sehr von der Familie distanziert und weiss nicht mehr, worüber sie mit den Eltern oder der Verwandtschaft sprechen sollen. Ebenfalls ein Viertel pflegt ein gutes Verhältnis und erfährt Wertschätzung für den eingeschlagenen Weg. Etwa die Hälfte der Befragten hat sich damit arrangiert, in zwei Welten zu leben. Das ist aber nicht einfach. Das weiss ich aus eigener Erfahrung.