erschienen in: Nordwestschweiz, 4.01.2014, S. 2
Kürzlich habe ich ein kleines Mädchen beobachtet, wie es behutsam und hoch konzentriert über ein etwa ein Meter hohes Mäuerchen balancierte. Aufgeschreckt wurde es durch eine sich überschlagende Stimme: «Pass sofort auf!» Das Mädchen erstarrte und sein Blick zeigte, dass es nicht mehr in der Lage war, einen einzigen Schritt weiterzugehen. In seinem Gesicht spiegelte sich die Angst – die Angst seiner Mutter, die es auch sofort von der Mauer herunterholte.
Dieses Beispiel steht stellvertretend dafür, wie risikoscheu heutige Kinder aufwachsen müssen. Zugegebenermassen hat die Mutter mit ihrem Eingreifen möglicherweise ein paar blaue Flecken verhindert. Aber sie hat auch verhindert, dass für ihre Tochter das Spiel mit dem selbst gewählten Risiko zum Erfolg werden konnte. Das Mädchen hätte auf diese Weise Grenzen überwinden und auch seine Angst besiegen können. Kleine Kinder entwickeln auf diese Weise Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Sie lernen, Situationen richtig einzuschätzen und Sicherheit und Selbstbewusstsein zu gewinnen.
In unserer Gesellschaft hat sich eine beispiellose Sicherheitskultur durchgesetzt. So besehen hat die Mutter ‚richtig‘ gehandelt. Von verantwortungsvollen Eltern wird erwartet, dass sie ihre Kinder dauernd überwachen und vor jeder möglichen und unmöglichen Gefahr schützen. Deshalb trifft man auf ganz normalen Spielplätzen immer mehr auf Kinder, die auf Geheiss ihrer Eltern einen Velohelm tragen. Ein aufgeschürftes Knie, ein Sturz vom Velo oder Dreirad, aber vielleicht auch eine Magenverstimmung, weil der Nachwuchs etwas nicht ganz Sauberes gegessen hat, gelten zunehmend als absolute Gefahren, die unter allen Umständen vermieden werden sollen.
Ein anderes Beispiel ist die Tatsache, dass Eltern ihre Kinder zunehmend per Auto zur Schule fahren. Es gibt sogar Schulen, die «Elternhaltezonen» einrichten, damit die Kinder sicher ein- und aussteigen können. Dieses Eltern-Taxi-Phänomen gründet in der Angst, dem Nachwuchs könnte etwas passieren. In vielen Köpfen von Vätern und Müttern ist der pädophile Kidnapper allgegenwärtig, so dass sie in ihrer Angst in einem permanenten Katastrophenmodus leben. Vielen Taxi-Eltern fehlt deshalb ein objektiver Blick auf tatsächliche Gefahren und Risiken.
Weshalb fürchten wir uns so sehr um unsere kleinen Kinder? Weil sich das Bild vom Kind in den letzten zwanzig, dreissig Jahren stark gewandelt hat. Galten Kinder noch in den siebziger Jahren als robust und belastbar und das Risiko als positiv, so überwiegt heute die Vorstellung, Kinder seien gefährdet und zerbrechlich. Deshalb müssten sie von Anfang an vor Schäden jeglicher Art beschützt werden.
Selbstverständlich will ich die Tendenz zur Sicherheitsmaximierung unserer Gesellschaft nicht generell kritisieren. Es gilt, zwischen echter Gefahr und Risiko zu unterscheiden. Vor Gefahren müssen wir unsere Kinder schützen, weil sie diese möglicherweise noch gar nicht sehen oder einschätzen können. Dazu gehören Steckdosen oder giftige Beeren für Babys oder dicht befahrene Strassen für Kleinkinder. Ein Wagnis ist jedoch etwas anderes: beispielsweise das Mäuerchen, auf dem das Mädchen balancierte und das es als positive Herausforderung gesucht hatte. Oder für Knaben die ‚Kämpfli‘, weil sie das miteinder Rangeln als Wettbewerb so sehr lieben.
Kindern, die in Watte gepackt werden, fehlt etwas ganz Entscheidendes: lernen zu können, wie man einen Erkundungs- und Freiheitsradius durch Handeln und Üben ausloten kann, wie man Grenzen und Hürden überwindet, um auf diese Weise über sich selbst hinaus wachsen zu können. Eltern, die mit ihrer Risikoscheu ihre Kinder ersticken, machen sie glauben, dass Aufwachsen generell gefährlich sei. Deshalb werden sich auch gut überwachte Kinder verletzen, weil sie nicht gelernt haben, mit Gefahren umzugehen.
Unsere überbehütende Sicherheitskultur schadet den Kindern mehr als die Risiken, denen sie täglich ausgesetzt sind. Deshalb ist vor überdimensioniertem Schutz, unverhältnismässigen Sicherheitsvorkehrungen und übertriebener Geborgenheit zu warnen. Jedes Kind hat ein Recht auf blaue Flecken. Nicht jede Gefahr muss aus dem Weg geräumt und jede Tischkante abgerundet werden.
Was kann man dagegen tun? Der erfolgreichste Weg ist der, bei sich selbst anzusetzen. Eltern – und manchmal auch Grosseltern – sollten mehr Mut und Gelassenheit entwickeln, öfters den gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Damit könnten sie ihrem Nachwuchs ein wenig der Freiheit zurückgeben, von der wir selbst als Kinder profitierten und die uns widerstandsfähig gemacht hat.