erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 30.11.2023, 2.
Bildung hiess bei den alten Griechen noch «schole» und galt als Zeit verlieren und Musse finden. Das ist vorbei. Heute widerspiegeln Bildung und Erziehung die Vorliebe, Kinder schnell zu optimieren. Der Psychologe David Elkind sagt: Sie werden durch frühe Förderung, Schule und Freizeit gehetzt. Dieser Trend heisst Hothousing – zu Deutsch Treibhausförderung. Er steht für die Überzeugung, Kinder könne man wie Diamanten schleifen, damit sie maximal leistungsfähig werden. Wer sie bloss in die Gesellschaft hineinwachsen lässt, hält ihnen wichtige Bildungsprozesse vor. Die Zeit des Müssiggangs ist passé.
Die Abschaffung des Begriffs des Bereitseins
Treibhausförderung ist ein fürchterliches Wort. Doch es beschreibt die Situation mancher Kinder. Gemäss der Lernindustrie können sie nahezu alles lernen, wenn es nur gut arrangiert ist. Der Markt ist riesig und die Werbung auch. Schon für die Kleinen gibt es Lern-DVDs wie «Baby-Einstein», die mit Kindern auf der Überholspur werben. Solche Angebote sind oft schon lange im Voraus ausgebucht.
Damit geht eine wichtige Perspektive vergessen: die Abschaffung des Begriffs des Bereitseins. Denn es gibt auch ein reifungsabhängiges Lernen. Kinder entwickeln sich schneller oder langsamer. Die einen sind still, die andern laut. Es gibt Frühentwickler genauso wie Spätzünder. «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht». Dieses afrikanische Sprichwort wird heute kaum mehr zur Kenntnis genommen.
Der wöchentliche Kurs im Frühenglisch macht keine Sprachgenies
Treibhausförderung kann den Schulerfolg keineswegs garantieren. Forschungserkenntnisse belegen, dass vorschulische Lese- und Mathematikinstruktion oder der wöchentliche Kurs im Frühenglisch aus den Kleinen kaum spätere Rechengenies oder Sprachtalente macht. Anders sieht es aus, wenn ein Kind aus Eigenmotivation lesen lernen will oder sich für Zahlen interessiert. Gleiches gilt für zweisprachig aufwachsende Kinder. Dann geschieht das Lernen als Bestandteil des Alltags spielerisch und in der Regel mit gutem Erfolg.
Die Vorschulkindheit ist wichtig für eine gelingende Entwicklung. Trotzdem zeichnet sich der Mensch durch eine lebenslange Lernfähigkeit aus. Jüngere und ältere Menschen können noch sehr vieles lernen – auch wenn dies mühevoller ist als in der Kindheit. Das Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» darf somit nicht überstrapaziert werden. Eher müsste es heissen: «Was Hänschen nicht lernt, wird für Hans eine arbeitsintensive Herausforderung, aber eine, die auch Erfolg verspricht.»
Kindern Entwicklungszeit schenken!
Welche Strategien gibt es alternativ zur Treibhausförderung? Erstens müssen Fördermassnahmen auf die ganzheitliche Entwicklung der Kinder und damit auch auf überfachliche Kompetenzen setzen. Dazu gehören Selbstvertrauen, Neugier, Hartnäckigkeit und Frustrationstoleranz. Zweitens gilt mehr denn je, das Recht des Kindes auf den heutigen Tag in dem Mittelpunkt zu stellen. Der Pädagoge Janusz Korczak hat damit gemeint, Kinder sollen im Hier und Jetzt angenommen und nicht nur mit Blick auf ihre schulische Zukunft vermessen werden.
Das heisst keineswegs, Kinder nun in Watte zu packen und sie nicht mehr herauszufordern. Nein, es geht vor allem um eine Bildung und Förderung, die das kindliche Potenzial in den Mittelpunkt stellt und das Temperament berücksichtigt. Erwachsene müssen akzeptieren, dass es eine grosse Bandbreite der Entwicklung gibt. Deshalb ist es gefährlich, Kinder in eine Norm zu pressen.
Genau deshalb brauchen schon die Kleinen einen Gegenentwurf zum Slogan unserer Optimierungsgesellschaft «Wir eilen, also sind wir». Kindern Entwicklungszeit zu schenken und ihnen zu erlauben, in der Gegenwart verweilen zu dürfen, ist Balsam für ihr Wohlbefinden und die Entwicklung ihres Selbstwertgefühls. Dies ist das wichtigste Fundament für die Unwägbarkeiten der Zukunft, mit denen die heranwachsende Generation konfrontiert werden wird.