erschienen in: NZZ, 15.06.2024, 17.
Kennen Sie Ihren Intelligenzquotienten? Vielleicht den Ihrer Kinder oder Enkel? Wenn nicht, sollten Sie dies in Erfahrung bringen. Nur so können Sie abschätzen, ob Sie oder Ihr Nachwuchs zu den 70 Prozent der Bevölkerung gehören, die in der Nähe des Mittelwertes liegen (100 Punkte), zu den 15 Prozent der überdurchschnittlich Begabten oder sogar zu den zwei Prozent der Hochbegabten mit einem IQ von 130 und mehr. Wenn das zutrifft, sind Sie vielleicht ein bisschen stolz. Denn eine hohe Intelligenz gilt als Tor zum Erfolg. Ihre Markenzeichen sind sehr gute Noten, der Besuch des Gymnasium und eine universitäre Karriere.
Diese verbreitete Überzeugung stimmt so nicht. Aus einem frühreifen Wunderkind wird später nicht selbstverständlich ein Genie. Auch die Fähigkeit, in hochstehender Weise sprechen und argumentieren zu können, ist noch lange keine Garantie dafür, es aufgrund einer überdurchschnittlichen Intelligenz zu Könnerschaft und Expertise zu bringen. Entscheidend für den Erfolg sind eine Kombination aus Gewissenhaftigkeit, Begeisterungsfähigkeit und Ausdauer. Das ist die These der Expertiseforschung. Im Lehrplan 21 heissen solche Fähigkeiten überfachliche Kompetenzen, in der anglo-amerikanischen Psychologie Grit, in der Wirtschaft meist Soft Skills oder Future Skills. Die WHO verwendet den schönen Begriff Lebenskompetenzen.
Begabt und formbar
Doch die These hat in unserer Leistungsgesellschaft einen schweren Stand. Es zählen vor allem die mess- und greifbaren Hard Skills. Dazu gehören gute Schulnoten und Zertifikate sowie eine hohe Intelligenz. Das begabte und formbare Kind ist die Vision der neuen Mittelschicht geworden. Manche Eltern tun viel dafür, damit der Nachwuchs als hochbegabt identifiziert wird. Sie rennen von einer Abklärung zu nächsten, bis die Diagnose vorliegt. Man sollte ihnen keine Vorwürfe machen, dass sie nach dem Besten für ihr Kind suchen. Denn oft wird die Diagnose Hochbegabung als Mass der Dinge und als Kaderschmiede für die Zukunft verstanden.
Hohe IQ-Werte sind selbstverständlich vielversprechend, oft aber auch zu ultimativ. Beispiele dafür sind die beiden Physiker William Shockeley und Louis Alvarez, die für ihre bahnbrechenden Untersuchungen in den sechziger Jahren den Nobelpreis erhielten, als Kinder jedoch aufgrund ungenügender Intelligenz nicht in die berühmte amerikanische Hochbegabtenstudie von Louis Terman aufgenommen worden waren.
Das ist kaum erstaunlich. Intelligenz wird überschätzt, aber ebenso unterschätzt. Überschätzt wird sie bei sogenannten Überleistern, auch Overachiever genannt. Sie zeigen bessere Schulleistungen als aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten zu erwarten wäre. Die Lernforscherin Elsbeth Stern kommt in ihren umfangreichen Studien zum Schluss, mindestens jeder dritte Platz an Gymnasien sei von Überleistern besetzt, die eigentlich nicht dorthin gehören würden.
Nicht selten wird Intelligenz auch unterschätzt. Dies trifft für Underachiever oder Minderleister zu. Das sind Heranwachsende, die trotz ihrer hohen Intelligenz erwartungswidrig schlechte Schulleistungen erbringen. Die Forschung geht von gut zwölf Prozent Minderleistern aus, und das Phänomen gilt als eher männlich. Manche von ihnen schaffen den Sprung ans Gymnasium nicht. Entweder versuchen sie es dann nochmals oder machen eine Berufslehre. In einer unserer Längsschnittstudien in der Berufsbildungsforschung konnten wir acht Prozent solcher Lernenden eruieren und zwar in allen Berufsfeldern – vom Informatiker bis zum Bodenleger. Wären sie aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz im Gymnasium nicht besser aufgehoben gewesen? Das wissen wir nicht. Tatsache ist, dass die Mehrheit von ihnen während der Berufslehre aufblühte. Einige haben später sogar ein ETH-Studium abgeschlossen.
Die Bedeutung hochstehenden Übens
Weder der Besuch des Gymnasiums noch der Abschluss einer Berufslehre lässt auf eine höhere respektive niedrigere Intelligenz schliessen oder Aussagen über zukünftige Leistungsentwicklungen zu. Zwar sind kognitive Fähigkeiten eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung, um besonders ausbildungserfolgreich zu werden. Das sogenannte Schwellenwertmodell besagt, dass zwar eine mindestens durchschnittliche Intelligenz vorhanden sein muss, um leistungserfolgreich zu werden, doch genauso überfachliche Kompetenzen verfügbar sein sollen.
Die Expertiseforschung geht noch einen Schritt weiter. Sie unterstreicht nicht nur die Bedeutung überfachlicher Kompetenzen, sondern auch hochstehendes Üben. Zwar gilt es als verstaubte Sekundärtugend. Doch in der Expertiseforschung geht es um mehr, um Deliberate Practice, auch 10'000-Stunden-Regel genannt. Gemeint ist damit eine lange, intensive und hochstehende Auseinandersetzung in einem Wissens- oder Könnensbereich, damit Expertise entstehen kann. Das klingt nach einer rundum guten Sache. Denn diese Regel macht glauben, der amerikanische Traum vom Tellerwäscher zum Millionär würde talentfrei, nur mit sehr viel Übung greifbar.
Nein, intensive Übung allein bringt keine Meisterschaft. Entscheidend ist, dass nicht nur ein Talent vorhanden ist, sondern auch, auf welchem Niveau etwas gelernt und mit Hartnäckigkeit umgesetzt wird. Wer mit einer hohen logisch-mathematischen Intelligenz ausgestattet ist oder im Handwerk besonderes Talent besitzt – immer braucht es neben einem überdurchschnittlichen zeitlichen Aufwand auch Grit, also die Entschlossenheit, mit Eigenmotivation Ziele langfristig zu verfolgen und Hindernisse überwinden zu wollen. Das gilt schon für Kinder. Ein talentierter Sohn, der begeistert Geige spielt, hat wahrscheinlich mehr Spass am Üben als eine Tochter, die dies unter Druck tut. Förderkompetenzen von Lehrkräften, Trainern, Berufsbildenden oder Mentorinnen und Mentoren sind deshalb besonders wichtig. Wer fördert, muss in der Lage sein, hochstehende Übungs- und Trainingsprozesse so zu arrangieren, dass junge Menschen im richtigen Mass herausgefordert und animiert werden, über sich selbst hinauszuwachsen.
Lebenskompetenzen dürften ebenso wichtig sein wie Intelligenz
Auch in der Psychologie der Lebensspanne spielen Intelligenz, Übung, Training und überfachliche Kompetenzen eine Rolle, aber in einer etwas anderen Perspektive. Die Lebenspannenpsychologie begreift die menschliche Entwicklung als lebenslangen Prozess, der auch mit der Veränderung von Intelligenz einhergeht. Paul Baltes hat dies in seinem Zwei-Komponenten-Modell der Intelligenz erklärt. Die erste Komponente ist die Mechanik, auch fluide Intelligenz genannt. Primär biologisch determiniert basiert sie vor allem auf Geschwindigkeit und Genauigkeit der Informationsverarbeitung. Die Mechanik wächst im Kindesalter rasch an und sinkt ab dem frühen Erwachsenenalter stetig.
Die zweite Komponente ist die Pragmatik, auch als kristalline Intelligenz bekannt. Sie ist kulturell geprägt, unterstreicht die Bedeutung bereichsspezifischer intellektueller oder praktischer Vorleistungen und bildet die Grundlage für den Erwerb von Expertise. Ab dreissig nimmt die Pragmatik zu, erreicht in den Vierzigern ein erstes Hoch und klettert in den Fünfzigern noch einmal nach oben. Doch sie ist abhängig von Übung, Motivation und Durchhaltevermögen – also von überfachlichen Kompetenzen. Nur so kann die Pragmatik stabil bleiben oder Leistungsexzellenz auch im späteren Alter noch möglich machen.
Was folgt aus solchen Erkenntnissen? Dass erfolgreiche Ausbildungs-, Berufs- und Lebenswege nicht lediglich als Ergebnis von Hard Skills zu verstehen sind. Gewissenhaftigkeit, Hartnäckigkeit, Begeisterung und Durchhaltevermögen sind keinesfalls nur «softe» Skills. Sie sind das Fundament, damit Hard Skills auch in der Praxis in Erfolg münden können. Dazu gehört ebenso hochstehendes Üben, verbunden mit effektiven Lernstrategien.
Viele Indizien sprechen dafür, dass Lebenskompetenzen Intelligenz schlagen. Für Heranwachsende sind sie das Rüstzeug, mit dem sie sich auf eine unwägbare Zukunft vorbereiten können. Zwar sind solche Kompetenzen, wie alle anderen Persönlichkeitsmerkmale, sowohl genetisch als auch sozial geprägt. Doch unsere Gesellschaft sollte sich vor allem für den nicht-genetischen Anteil interessieren. Dazu gehört die Frage, ob Familien und Schulen, aber auch das weitere soziale Umfeld, die Entwicklung von Lebenskompetenzen positiv beeinflussen können und auch wollen.