Das Gymnasium ist Schuld, dass der Berufsbildung die guten Lehrlinge fehlen. Diese Aussage hört man immer wieder, wenn es um den Lehrlingsmangel geht. Die Berufsbildung sieht sich als Verliererin. Aber ist das Gymnasium wirklich der Prügelknabe? Eher nicht, denn gute Lehrlinge fehlen der Berufsbildung nicht einfach deshalb, weil sie sich fürs Gymnasium entscheiden. Die Hauptursache liegt in den sinkenden Schülerzahlen, welche die Berufsbildung gegenwärtig besonders spürt. Denn nach wie vor wählen gleich viel oder etwas mehr Jugendliche das Gymnasium oder eine Vollzeitschule, weshalb der Berufsbildung nicht mehr so viele leistungsfähige junge Menschen zur Verfügung stehen.
Die soziale Herkunft entscheidet den Zugang zur Bildung
Aber es geht kaum darum, dass zu wenige der leistungsfähigen Jugendlichen eine Berufslehre absolvieren und zu viele das Gymnasium. Das Störende liegt darin, dass nicht Begabung und Interesse über den Zugang zur Bildung entscheiden, sondern die soziale Herkunft. Vereinfacht gesagt besuchen die oberen Schichten das Gymnasium und studieren dann mehrheitlich an der Universität. Die unteren Schichten machen eine Berufslehre und vielleicht noch eine Berufsmaturität. Doch wer aus einer Arbeiterfamilie stammt, geht deutlich seltener nachher an eine Fachhochschule.
Das ist kein zukunftsträchtiger Zustand. Wenn Neigungen und Fähigkeiten tatsächlich den Ausschlag zur Bildungs- und Berufswahl geben würden, dann wären in der Berufsbildung mehr Jugendliche aus gut situierten Familien vertreten und in den Gymnasien mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- und Migrantenfamilien.
Die Ursache liegt teilweise bei den Eltern
Liegt die Ursache des Übels somit bei den Eltern? Man liest in den Medien ja oft, dass die Gutsituierten ihren Ehrgeiz zügeln und ihre Sprösslinge für eine Berufslehre motivieren sollen. Die Sache ist aber komplizierter. Bildung ist heute längst kein öffentliches, sondern ein hart umkämpftes privates Gut. Viele Väter und Mütter der Mittelschicht praktizieren das, was die Bildungspolitik jahrelang von ihnen erwartet hat, nämlich eine bildungsbeflissene Elternschaft. Sie haben ihre Antennen dauernd ausgefahren und bemühen sich darum, dass der Nachwuchs von Anfang an die gleichen oder besseren Chancen hat wie die anderen Kinder. Deshalb grenzen sie sich nach unten ab. Aus Angst, der beste Freund des Kindes könnte aus der Unterschicht kommen und einen schlechten Einfluss haben, ziehen sie in bessere Quartiere, schicken die Kinder in gute Schulen und lesen für sie die «richtigen» Freunde aus. Ansteckungsangst nennt dies der Bildungssoziologe Heinz Bude.
Kinder verschiedener Schichten sind heute wie durch eine Kontaktsperre voneinander getrennt. Dass sie deshalb andere Welten nicht mehr kennenlernen, liegt aber auch an der Ansteckungangst einfach gestellter Familien. Weil ihnen die akademische Welt meist fremd ist und sie die Bildungsversessenheit der «gut Betuchten» ablehnen, sind sie dem Gymnasium gegenüber oft enorm skeptisch eingestellt. Sie sind überzeugt, dass junge Menschen, die den akademischen Weg wählen, nicht wissen, was arbeiten heisst. Davor wollen sie ihr eigenes Kind bewahren, auch wenn es intellektuell begabt und akademisch interessiert ist. Doch genau solche Kinder gehörten ins Gymnasium und nicht in die Berufsbildung.
Eine Vision: Chancengerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen
Eine Lösung gibt es kaum, doch eine Vision. Wir sollten aufhören, über zu ehrgeizige oder zu bescheidene Eltern zu diskutieren und stattdessen die Chancengerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen. Chancengerechtigkeit zielt darauf ab, dass jeder junge Mensch die gleichen Chancen wie der andere bekommt, seine individuellen Begabungen zu entwickeln. Um diese zu erkennen, braucht es Potenzialanalysen, die sowohl handwerkliche Neigungen als auch akademische Fähigkeiten sichtbar machen. Dann würde auch die unheilige Praxis ein Ende finden, nämlich Mittelschichtskinder mit guten Schulnoten unhinterfragt und ohne Bezug zu ihren Fähigkeiten und Interessen ins Gymnasium zu schicken, Unterschichtskinder jedoch lediglich mit der Begründung in die Berufsbildung, die Eltern könnten ihnen ja doch nicht helfen.
Dass Gymnasium und Berufsbildung derart gegeneinander ausgespielt werden, ist nicht nur unverständlich, sondern auch unhaltbar. So wird Bildung zum teuflischen Gut und unsere Bildungsvielfalt zur grossen Verliererin.