Von Margrit Stamm auf Mittwoch, 06. Mai 2015
Kategorie: Blog

Schulpflicht in Windeln?

erschienen in Aargauer Zeitung/Nordwestschweiz, 4. Mai 2015, 16.

Der Kindergarten ist obligatorisch und in die Schulpflicht eingebunden. Damit setzt die Bildungspolitik ein Zeichen, dass sie die frühe Förderung ernst nimmt. Tatsächlich können viele Kindergärtler schon rechnen, lesen oder schreiben. Gelernt haben sie es im Förderkurs, von den Eltern oder beim grossen Bruder abgeschaut. Nur, Kindergärten haben eigentlich andere Probleme. In unseren Forschungsstudien klagen viele Lehrkräfte über massive Entwicklungsdefizite. Der Anteil der Kinder, die kaum mehr Treppen steigen, die Hände selbst waschen, den Reissverschluss der Jacke schliessen oder die Schuhe binden können, nimmt stark zu. Und es gibt immer mehr, die noch Windeln brauchen.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn Gemeinden Kriterien zusammentragen, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Kinder beim Kindergarteneintritt verfügen sollten. Das hat kürzlich auch die Stadt Baden mit einem Merkblatt getan, doch hat dies bei den Eltern hohe Wellen geworfen. Aus einer pädagogischen Perspektive sind solche Kriterien jedoch in Ordnung und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist der Kindergarten darauf angewiesen, Kinder zu unterrichten, die ein grundlegendes Mass an Selbstständigkeit erreicht haben. Zweitens tun Eltern gut daran, ihr Kind auf dieses Ziel hin zu erziehen, denn ein erfolgreicher Übergang ist für den späteren Schulerfolg und für die Bewältigung aller weiteren Übergänge zentral.

Selbstverständlich kann man argumentieren, die Kinder seien noch so klein und aufgrund des Stichtages vom 31. Juli manchmal erst gut vier Jahre alt. Dies ist jedoch eine falsche Optik. Die Erziehung zur Selbstständigkeit beginnt schon im frühen Kindesalter. Väter und Mütter sind auf dem rechten Weg, wenn sie ihren Nachwuchs nicht überbehüten, ihm nicht dauernd alle Hindernisse aus dem Weg räumen und ihn vor jeder Gefahr schützen. Wer hingegen sein Kind auch mit drei Jahren noch im Buggy herumstösst, weil es angeblich so schnell müde wird, es jede Treppe hochträgt, wenn es dies selbst nicht schafft oder ihm aus Verletzungsangst keine Schere in die Hand gibt, riskiert, dass es nicht «kindergartenfähig» wird.

Dies gilt auch für Kinder, die noch in die Windeln machen. Denn Trocken werden ist nicht nur ein Kriterium der Reife, sondern ebenso eine Frage der Erziehung. Kleinen Kindern wird meist zwischen 18 und 36 Monaten der Drang bewusst, die Blase oder den Darm zu entleeren. Dies drücken sie mit ihrem Verhalten aus, mit Körper und Mimik, manchmal auch mit der Sprache. Damit signalisieren sie, dass sie jetzt bereit sind. Diese Eigeninitiative sollten Eltern zum Anlass nehmen, ihrem Sprössling durch ihre Vorbildfunktion, aber ohne Druck und Zwang, zu zeigen, wie man auf den Topf oder die Toilette geht. Leider gibt es Laissez-Faire-Eltern, welche diesen Zeitpunkt verpassen. Denn wer auf die Signale des Kindes mit einem lapidaren Satz «Kein Problem, du hast ja eine Windel an» reagiert oder ihm am Freitag- und Samstagabend Windeln anzieht, weil man länger schlafen will, der erzieht es geradezu zu einem Windelkind. Denn es versteht diese Botschaften logischerweise so, dass es auch anders geht und es normal ist, in die Windeln zu machen. Dann jedoch wird es ausserordentlich schwierig, dieses Verhalten wieder umzutrainieren.

Natürlich ist ein gelingender Übergang ebenso vom Kindergarten und der familienergänzenden Betreuung (Kita, Tagesfamilie, Spielgruppe, Grosseltern etc.) abhängig, inwiefern sie mit den Eltern in der Erziehung zur Selbstständigkeit am gleichen Strang zieht. Trotzdem gehört die Windelfrage in den Verantwortungsbereich des Elternhauses. Zwar gibt es immer besondere Fälle – beispielsweise, wenn ein Geschwisterchen geboren wird und das grössere Kind wieder ein Babyverhalten annimmt oder wenn familiäre Spannungen vom Kind auf diese Weise bewältigt werden – doch ist der Kindergarteneintritt der späteste Zeitpunkt, an dem ein Kind windelfrei sein sollte. Und weil es durchaus auch schwierige Kinder gibt, sollten unsichere Eltern verstärkt Familienbildungsangebote in Anspruch nehmen können, welche sie auf dem Weg zur Kindergartenfähigkeit ihres Sprösslings unterstützen. Für ein Kind ist es eine Schmach, mit Windeln schulpflichtig zu werden.

 

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