erschienen in: Aargauerzeitung/Nordwestschweiz, 04.04.2022, 2.
Im Prozess gegen ex Raiffeisen-Chef Pierin Vinzenz konnte man lesen, dass uns solche Skandale erspart bleiben würden, wenn Frauen in der Wirtschaft die Hauptrolle hätten. Verbirgt sich hinter einer solchen Aussage vielleicht die Ansicht, die Rettung allen Übels liege bei den Frauen, weshalb sich der Mann an ihnen therapieren müsse?
«Ok, Boomer!»
Tatsächlich gilt der Mann als das problematische Individuum des 21. Jahrhunderts. Männlichkeit ist zur Kurzform für unsere gesellschaftlichen Missstände geworden. Etwa ab dem fünfzigsten Altersjahr gehört das männliche Geschlecht zu den «Boomern», zu den alten weissen Männern. Es scheint normal, dass sie mit Statements wie «Ok, Boomer!» abqualifiziert, bagatellisiert und ironisiert werden. Dieser Tunnelblick verunmöglicht, sowohl die Vielfalt der Männer als auch ihre zum Teil beeindruckenden individuellen Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen.
Es ist üblich geworden, dass Frauen über Männer schreiben. Damit bringen sie zum Ausdruck, wo überall es mit der männlichen Emanzipation hapert. Noch nie konnten wir so viele Publikationen, wissenschaftliche Fachartikel und Essays zum weissen Mann in der Krise lesen. Offenbar ist der Gleichstellungs- und Emanzipationsprozess, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Sache der Frauen geblieben. Männer sollen sich diesem Prozess anschliessen oder ihn zumindest gutheissen – und nicht unterwandern.
Einfühlsame Frauenversteher und rückwärtsgewandte Antifeministen
Daraus resultiert eine wirkungsvolle Dialoglosigkeit. Sie provoziert eine Vielzahl von Gegenreaktionen, wobei zwei polare Gruppen besonders hervorstechen. Zum einen sind es diejenigen Männer, die sich als einfühlsame Frauenversteher definieren. Sie sind lieb, melancholisch, sanftmütig und sehr mit sich selbst beschäftigt. Gleichzeitig fühlen sie sich zwischen Geschlechtsidentität und Rollenvielfalt hin- und hergerissen. Andererseits gibt es die rückwärtsgewandten Antifeministen, die sich als Opfer der weiblichen Übermacht verstehen. Sie artikulieren ihre Wut mit massiver Frontstellung und radikalisieren sich in frauenfeindlichen Gruppierungen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist ein grosser Fortschritt von Feminismus und Emanzipation, dass das Bild der Frau, ihre Position und ihr Selbstverständnis gründlich renoviert worden sind. Allerdings trifft dies für das Männerbild nicht zu. Eine solche Selektivität hat für Frauen Nachteile mit sich gebracht, weil sie trotz Emanzipation immer noch vorwiegend mit weiblichen Eigenschaften – Fürsorge, Hilfsbereitschaft oder Empathie – etikettiert werden. Doch aus der Geschlechterforschung wissen zur Genüge, dass es nicht in erster Linie die Hormone sind, welche das Verhalten bestimmen, sondern soziale Zuschreibungen und Erwartungen. Können Frauen nicht auch verantwortungslos oder egoistisch sein wie Männer und häusliche Gewalt ausüben – allerdings auf eine andere und oft verdeckte Art und Weise? Bisher fehlen differenzierte und objektive Untersuchungen weitgehend.
Die Abwertung des Männlichen und die Erziehung der Knaben
Neben der Forderung, das Männerbild neu zu denken, sollten wir uns fragen, was die gesellschaftliche Abwertung des Männlichen bewirken kann – auch für die Erziehung von Knaben. Differenzierende Rollenmodelle fehlen weitgehend, und souveräne, auf Gleichberechtigung fokussierte öffentliche Positionen von Männern sind rar. Deshalb haben es Knaben schwerer als je zuvor, zu einer Ich-Identität zu finden. Das dürfte ein gewichtiger Grund dafür sein, warum männliche Heranwachsende zunehmend von Orientierungslosigkeit überrannt werden – und zwar nicht nur solche, die als Bildungsverlierer bezeichnet werden, sondern auch gut Gebildete.
Unsere Gesellschaft sollte die Folgen der abwertenden Sicht auf das Männliche reflektieren, damit die männliche Courage auf dem Weg zu einer neuen Rollenidentität überhaupt aufleben kann. Ein aufgeklärter Feminismus würde diese Courage dringend brauchen.