Wenn Sie momentan die Fussball-EM verfolgen, dann kennen Sie mit Sicherheit Namen wie Shami Khedira oder Danny Welbeck. Das sind besonders interessante Spieler. Shami Khedira verfügt zudem über eine besondere Kompetenz, die ich als professionelle Intuition bezeichnen würde.
Professionelle Intuition ist ‚gefühltes Wissen‘. Dieses Wissen ist zwar sehr schnell im Bewusstsein, doch kann häufig nicht erklärt werden, weshalb es plötzlich da ist. Es ist aber nicht einfach Spontaneität, sondern eher Wissen, das aus Erfahrung entsteht. Khedira beschreibt dies in einem Interview in der neusten Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT etwa so:
"Am Anfang wollte ich nur spielen. Dann hat mir mein Trainer gesagt: Wenn du lernst, ein Spiel besser zu lesen, dann kannst du Profi werden. Dann hat es klick gemacht bei mir. Ich habe gemerkt, dass man als Spieler das Spiel ganz bewusst beeinflussen kann. Ich mache mir Gedanken, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalten habe und versuch dann, dies wieder anzuwenden. Es ist eigentlich Erfahrung. Nur am Anfang musste ich lange überlegen."
Genau diese professionelle Intuition vermisse ich manchmal in der Schule: dass Lehrkräfte in der Lage sind, Entscheidungen auch spontan fällen zu können. Wie dies aussehen könnte, habe ich kürzlich bei einer Berufsschullehrerin bewundert, und zwar deshalb, weil sie nicht zuerst denken musste, bevor sie etwas intuitiv (und hoch professionell) tat. Sie führte in ihrer Klasse ein ‚Blitzlicht‘ durch – alle Schüler mussten sich ganz kurz zu einer von ihr gestellten Frage äussern – weil sie den Eindruck hatte, dass ‚etwas nicht stimmt‘. Als ich sie nachher fragte, welches Wissen sie dabei angewendet habe, antwortete sie: "Gar keines, ich hatte keine Zeit, weil ich mit der Klasse beschäftigt war."
Das Können guter Lehrerinnen und Lehrer besteht folglich nicht nur aus der Anwendung von wissenschaftlichem Wissen oder praktischer Übung, sondern auch aus Elementen intuitiver Praxis. Weder ein grosses Fachwissen noch eine ausreichende Praxis machen das aus, was wir mit ‚professionell unterrichten‘ verbinden. Deshalb müsste professionelle Intuition in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und auch in der Fort- und Weiterbildung viel stärker trainiert werden. Aber, ist dies möglich?
Natürlich und zwar genauso, wie dies Sami Khedira berichtet. Indem Lehrkräfte und die, die es werden wollen, Schlüsse aus den Faustregeln ziehen, die sich bisher bewährt haben. Das heisst nichts Anderes, als dass guter Unterricht auch aus jenem sechsten Sinn entstehen kann, den der Volksmund ‚Bauchgefühl‘ nennt.
Wer allerdings jetzt denkt, dass in der Schule immer aufgrund eines Bauchgefühls gehandelt werden sollte, der irrt. Intuition ist auf theoretisches Wissen angewiesen. Wer (noch) wenig davon hat, sollte sich nicht unbedingt auf seine Intuition verlassen. Danny Welbeck ist deshalb vielleicht auch nicht das beste Beispiel für professionelle Intuition, weil er noch zu unerfahren ist. Gereifte Spieler wie Shami Khedira – oder eben Lehrkräfte mit grosser Erfahrung und genug verinnerlichtem beruflichen Wissen – sind jedoch bestens dafür ausgerüstet, ihr Bauchgefühl mehr sprechen zu lassen. Ob dies immer zum Erfolg führt, ist jedoch eine andere Frage. Deutschland ist zumindest auf gutem Weg …