Ein Grossteil der Menschen reagiert auf Mutterschaft überaus emotional. Wird sie mit Begriffen wie Berufstätigkeit oder Hausfrau kombiniert, ist entweder Begeisterung oder Empörung garantiert. In medialen Beiträgen provoziert das Thema Unmengen an Kommentaren über »die« Mütter und was sie tun oder lassen sollen. Die Meinungen sind fast immer schon gemacht, denn viele sind davon überzeugt, genauso wie über das Thema Schule auch über Mutterschaft ein Wörtchen mitreden zu können. Alle haben ja eine Mutter, und deshalb weiss man doch, was es bedeutet, Mutter zu sein und von einer Mutter umsorgt zu werden!
Heute dominiert das Ideal der guten Mutter, das auf eine noch nie in diesem Ausmass dagewesenen Glorifizierung des Mütterlichen setzt. Mit diesem Supermama-Mythos sind enorm hohe Standards verbunden. Wer Mama geworden ist, fällt nach der Geburt oft in eine Identitätskrise, sobald die Zwänge dieses perfektionistischen Mutterbildes spürbar werden. Es gibt inzwischen viele Medienbeiträge, die mit einiger Regelmässigkeit Bilder der perfekten Mama toppen und sie mit der Botschaft verbinden, eine Mutter könne ihrer Aufgabe nur dann nachkommen, wenn sie in feinfühliger Fürsorge die Bedürfnisse des Kindes nonstop befriedige. Neuerdings gilt auch der Vater zwar als wichtiger und unterstützender Partner, aber er steht nie so in der Kritik wie die Mutter. Zeigt er häusliche Präsenz und kümmert sich gleichzeitig um ein volles Familienkonto, kann er sich der gesellschaftlichen Anerkennung sicher sein.
Intensive Mutterschaft führt zu Verunsicherung
Die idealisierten Ansprüche an Mütter passen weder zu unserer individualisierten Gesellschaft noch zu den Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter. Warum setzt man trotzdem so sehr auf dieses Ideal als quasi einziges anzustrebendes Qualitätsmerkmal? Mit Sicherheit auch deshalb, weil sich die Forschung – in erster Linie Bindungsforschung, Kleinkindforschung und Hirnforschung – jahrelang darauf eingeschossen hat. Das Mütterproblem wurde individualisiert, die systemische Sichtweise und damit auch soziale, politische und ökonomische Bedingungen von heutiger Mutterschaft vernachlässigt. Das Ergebnis sind Mütter, die überzeugt sind, alles für ihr Kind tun zu müssen und nichts unversucht lassen zu dürfen. Sie fühlen sich so unter Druck, perfekt zu sein, trauern aber ihren ehemaligen Freiheiten auch ein wenig nach.
Die Praxis der intensiven Mutterschaft hat eine hohe Messlatte. Sie hindert Frauen daran, auch an sich selbst zu denken und sich als eigenständige Person wahrnehmen zu dürfen. Zwar ist es keine Frage, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind enorm wichtig und auch wesentlich ist für ein gesundes Aufwachsen und Gedeihen. Doch genauso kann der zu intensive Betreuungs- und Erziehungsstil zu der Paradoxie führen, dass das Kind abhängig wird. Es kann nicht selbstständig werden, Herausforderungen kaum allein meistern und auch nicht lernen, mit Niederlagen umzugehen. Intensive Mutterschaft macht aus dem Nachwuchs Kinder im modernen Laufgitter. Auch für Paare erweist sich intensive Mutterschaft eher als hinderlich. Sie konzentrieren sich fast ausschliesslich auf die Kinder, geben die Zweisamkeit auf - also die Zeit, sich füreinander zu interessieren und zusammen Musse zu erleben, um neue Kraft zu schöpfen.
Und schliesslich tut intensive Mutterschaft den Frauen selbst nicht gut. Darauf verweist die empirische Tatsache, dass 70 Prozent der Frauen immer wieder stark verunsichert sind, wie sie ihre Aufgabe anpacken sollen, oft ein schlechtes Gewissen oder gar Schuldgefühle haben und sich permanent unter Druck fühlen. Die Zahl der Mütter mit Erschöpfungssyndromen wie Kopfschmerzen, Angstzustände, Schlafstörungen bis hin zum Burnout ist in den letzten zehn Jahren enorm gestiegen. Allerdings spielt das Ausmass, in welchem Frauen Konflikte in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleben, eine große Rolle. Es ist nicht die Mutterschaft an sich, die zu negativen Begleiterscheinungen führen kann, sondern die Art und Weise, wie sie praktiziert wird. Nicht wenigen Frauen gelingt es – meist zusammen mit ihren Partnern – ein normales respektive nicht ausschliesslich von der Selbstaufgabe geleitetes Verhältnis zum Muttersein zu entwickeln.
Mutter sein als hauptverantwortlicher Job: Drei Hintergründe
Der intensive Erziehungsstil ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Frage, weshalb die Mehrheit der Mütter trotz Berufstätigkeit unhinterfragt die familiäre Hauptverantwortung übernimmt. Manche argumentieren mit Schwangerschaft und Stillen (weil der Kontakt der Mütter zu den Kindern deshalb besonders intensiv sei, würden sie die Hingabe aufbringen, die für eine intensive Erziehung bedeutsam sei), mit dem Mutterinstinkt (weil Mütter als von Natur aus fähigste Betreuerinnen gelten würden) oder mit der Unfähigkeit der Väter (weil sie emotionale Zwerge seien, die nicht mit der notwendigen Feinfühligkeit auf das Kind eingehen könnten und viel besser im Geldverdienen seien).
Alle drei Aspekte lassen sich widerlegen. Zwar haben Frauen wegen ihrer Schwangerschaft einen Vorsprung, aber Männer können schnell aufholen und ähnlich feinfühlige Emotionen entwickeln wie ihre Partnerinnen. Zudem ist der Mutterinstinkt in der Forschung eine höchst umstrittene Angelegenheit, weshalb oft nahegelegt wird, nicht von Instinkt, sondern von Mutter- und Vaterliebe zu sprechen. Und schließlich sind Väter mitnichten emotionale Zwerge – vorausgesetzt, sie sind selbst motiviert und ihre Partnerinnen lassen ihnen den notwendigen Raum, um zu ihrem Kind eine innige Beziehung aufzubauen.
Aus einem bildungssoziologischen Blickwinkel sind es aber auch andere Aspekte, welche die Verpflichtungsgefühle von Müttern beeinflussen. Dazu gehören die gesellschaftlichen, teilweise aber auch wissenschaftlichen Vorbehalte gegenüber Fremdbetreuung, das Ideal des optimierten Kindes und die Konkurrenz zwischen Frauen.
Vorbehalte gegenüber Fremdbetreuung: In der Erziehung dominiert heute ein kindzentrierter Ansatz, der uneingeschränktes Engagement, emotionale Hingabe sowie arbeitsintensive Betreuung, Pflege und Förderung erfordert. Die in den letzten 20 Jahren enorm gestiegenen Erwartungen an Mütter speisen sich in erster Linie aus den vielen Expertenmeinungen zur Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung und damit zur Mutterpräsenz. Dabei haben vor allem die amerikanischen Studien von Jay Belsky und seinem Team hierzulande eine wichtige und zugleich problematische Rolle gespielt. Unter anderem untersuchten die Forscherinnen und Forscher die Auswirkungen verschiedener Formen familienergänzender Betreuungsangebote (Kitas, Tagesfamilien, Nannys, Verwandte etc.) auf die kindliche Entwicklung und die Rolle der abwesenden Mutter. Obwohl die Studienergebnisse gemischt waren und sich vor allem die Qualität der Fremdbetreuung als zentrales Kriterium für eine gute kindliche Entwicklung erwies, wurde in vielen Medien ganz anders berichtet. Es hieß und heißt heute teilweise immer noch, fremdbetreute Kinder würden Verhaltensschwierigkeiten, Bindungsstörungen und in der Schule vermehrt Probleme entwickeln. Solche Schlagzeilen führen dazu, dass berufstätige Frauen als schlechte Mütter bezeichnet werden, wenn sich der Nachwuchs nicht wie gewünscht entwickelt.
Das Ideal des zu optimierenden Kindes: Auch wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute versuchen, Mythen durch Fakten zu ersetzen, ist in vielen Köpfen nicht nur das Dogma der intensiven Mutter besonders präsent, sondern auch die Idee des zu optimierenden Kindes. Diese Idee besagt, dass man den Sprössling wie einen Diamanten schleifen oder wie einen Tonklumpen beliebig formen kann, bis er den eigenen Vorstellungen entspricht. Mütter, die nichts übersehen wollen, sind deshalb immer auf der Suche nach all dem, was man noch optimieren könnte. Deshalb ist ihre Sorge nachvollziehbar, möglicherweise zu spät mit der Förderung zu beginnen und das Kind nicht optimal zu unterstützen.
Mütter im Konkurrenzdruck: Eltern sollen verantwortungsvoll sein und das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen – so zumindest lautet der gesellschaftliche Tenor. Weil bei vielen Müttern die Fäden zusammenlaufen, sind erfolgreiche Kinder ein Zeichen mütterlicher Ernsthaftigkeit. Erfolgreiche Mütter haben erfolgreiche Kinder! Dieser Druck hat zur Folge, dass Frauen genau hinschauen, was andere Frauen – die Nachbarin, die Freundin oder die Kollegin am Arbeitsplatz – für ihre Kinder tun. Infolgedessen ist es logisch, dass viele Mütter die Antennen ausfahren und mit anderen Frauen wetteifern, auch wenn sie dies öffentlich nie zugeben würden.
Fazit
Unsere Gesellschaft ist einem Mutterideal verpflichtet, dem keine Frau genügen kann. Überall werden uns endlose Paraden berühmter und perfekter Supermütter präsentiert, welche glauben machen, dass sie ihre Kinder immer in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen, sie viel mehr als ihre Arbeit lieben und das Geld dabei keine Rolle spielt, weil man es einfach hat. Auch bekannte berufstätige Frauen wie Sheryl Sandberg, Michelle Obama oder Amal Clooney präsentieren sich so, als ob eine perfekte Mutter trotz Berufskarriere zu sein letztlich nur eine Frage des Willens und Managements sei.
Doch der Mama-Mythos steht für eine Rückkehr in vergangene Zeiten. Deshalb muss er zur Debatte gestellt werden. Allerdings wäre es falsch, Frauen einfach zur Selbsttherapie aufzurufen und ihnen ans Herz zu legen, die Mutterschaft doch etwas gelassener zu nehmen. Angesprochen sind eher Familienpolitik, Ärztinnen und Ärzte, Expertinnen und -experten der Beratung und der Eltern- und Familienarbeit, welche die Entwicklung eines realistischeren Mutterbildes mit ihrer Fachexpertise unterstützen können. Weil sie Frauen begleiten, ihnen die physischen und entwicklungspsychologischen Meilensteine sowie die Möglichkeiten zur Gesundheitsprävention und Förderung der Kinder näherbringen, sind sie wichtige Instanzen – gerade auch für Frauen, die besonders gute Mütter sein wollen. Deshalb können sie diese Frauen so unterstützen, damit sie dem Kind gegenüber unbeschwerter werden, sich nicht für sein Aufwachsen allein verantwortlich fühlen und auch bereit werden, Einiges aus der Hand zu geben, was sie als ihre urmütterliche Pflicht verstehen.
Literatur
Stamm, M. (2020). Du musst nicht perfekt sein, Mama. Schluss mit dem Supermama-Mythos. München: Piper.