Erschienen in: NZZ, 19.09.2022, 17: In der Schule zu scheitern kann auch wertvoll sein (erster Teil).
Besonders fleissig und gute Noten – solche Kinder haben beste Aussichten auf eine erfolgreiche Bildungslaufbahn. Denn das Humankapital ist das höchste Gut für eine florierende Wirtschaft. Hochleistungen sind Wegmarken der Ausbildung und ein Zeichen unserer Optimierungskultur. Schulen und Eltern, die alles tun, damit der Nachwuchs im Wettbewerb besteht, sind deshalb auf dem richtigen Weg.
Soweit die verbreitete Meinung. Doch sie ist nur teilweise richtig. Die Konzentration auf immer höhere Leistungen blendet aus, dass damit für Heranwachsende oft enorme psychische Kosten verbunden sein können. Manche müssen Leistungen erbringen, die sie fast überfordern. Ihre Fähigkeiten werden ausgepresst, nur um sie auf ein Niveau zu pushen, das für sie eigentlich zu hoch ist. Doch solchen Zusammenhängen schauen wir nicht gern in die Augen. Lieber werden Probleme individualisiert (Stichwort «Burnout Kids»).
Selbstverständlich ist Hochleistung nicht ausschliesslich als negatives Phänomen zu verstehen. Es gibt junge Menschen, die überdurchschnittlich intelligent sind. Sie lassen sich von Lehrkräften und Eltern unbeschadet herausfordern, damit sie ihre Leistungsexzellenz unter Beweis stellen können. Doch darum geht es hier nicht.
Eine Hauptursache für die aktuelle Situation ist das Bildungssystem, das die Akademisierung vorantreibt und die verantwortete Elternschaft als Grundbedingung für den Schulerfolg der Kinder postuliert. Schulen erwarten von Vätern und Müttern eine Menge – etwa Hausaufgaben zu kontrollieren oder bei der Erstellung von Referaten und Prüfungsvorbereitungen mitzuhelfen. Darum fühlen sich viele Eltern verpflichtet, als Produzenten der Kinder zu handeln und sie auf die Bühne zu stossen. Dass manche von ihnen enorm in die Ausbildung des Nachwuchses investieren und ihr Engagement bisweilen überdimensioniert wirkt, ist auch eine Folge dieser Entwicklung. Das betrifft nicht nur den Weg ins Gymnasium, sondern ebenso Jugendliche mit praktischen Begabungen, die unter allen Umständen nicht der Realschule (Sek. C in der Schweiz) zugeteilt werden sollen, genauso wie Langsamlernende, Träumer, Schüchterne und Hyperaktive, die mit Therapien "normalisiert" werden sollen.
Wir tun so, als sei der Leistungsdruck und seine Folgen eine notwendige Begleiterscheinung eines erfolgreichen Bildungssystems. Dieser Trend macht glauben, das Kind sei wie ein Tonklumpen formbar, bis es den Vorstellungen der Erwachsenen genügt. Oft wird bereits die frühe Förderung als Überholspur verstanden, um den Nachwuchs später automatisch Akademiker werden zu lassen. Doch es gibt keine Entwicklungspille, die aus Kindern junge Menschen macht, welche der Zukunftsplanung der Erwachsenen linear folgen können. Kinder spüren wie Seismografen, was von ihnen erwartet wird, deshalb beginnt der Druck manchmal bereits im Kindergarten.
Die Gesellschaft sollte sich von der Fixierung auf das formbare Hochleisterkind distanzieren. Dass es hierfür grosse Anstrengungen der Bildungspolitik braucht und keine Alibi-Reförmchen, ist eine weit verbreitete Forderung. Doch inzwischen gilt es als empirische Tatsache, dass nicht in erster Linie die Bildungsausgaben eine zentrale Rolle spielen (international liegt die Schweiz im Durchschnitt), sondern kleinschrittige Veränderungen von Einstellungen wirksamer sind. Allerdings wissen wir nur zu gut, dass genau dies schwierig ist. Einstellungen und Überzeugungen sitzen tief und halten sich hartnäckig. Strukturen lassen sich leichter verändern.
Welche Schule braucht der Mensch? Eine leistungsorientiere Schule, die jedoch genauso potenzialorientiert und chancengerecht ist. Und eine Schule, die sich nicht lediglich auf Selektionsprozeduren anhand von Noten konzentriert, sondern Lernprozesse sowie den Erwerb überfachlicher Kompetenzen ebenso gewichtet. Dass Kinder hin und wieder scheitern dürfen, gehört dazu.