Die Überzeugung hat eine lange Tradition, wonach zwischen den kognitiven Fähigkeiten eines Kindes und seiner sozialen Herkunft eine lineare Beziehung besteht. Historisch besehen ist es vor allem die viel beachtete Langzeitstudie von Lewis Terman zu den Lebensläufen überdurchschnittlich begabter Kinder, welche durch die Bestätigung solcher Annahmen Furore gemacht hat*. Drei Viertel der überdurchschnittlich begabten «Termiten-Kinder» stammten nämlich aus der Mittel- und Oberschicht, aber nur ein Viertel aus dem Arbeitermilieu. Erklärt wurde diese empirische Erkenntnis damit, dass es eben der höhere Bildungsgrad der Eltern sei, der für eine bessere genetische Ausstattung der Kinder sorge.
Tatsächlich war der Grund ein anderer. In Termans Studie hatten die Lehrpersonen die Identifikation der Kinder vorzunehmen. Weil die Mehrheit in privilegierten Gegenden unterrichtete, fehlten Kinder aus einfach gestellten Familien weitgehend. Diejenigen, die als hochbegabt identifiziert wurden, hatten somit gezwungenermassen vorwiegend gut gebildete Eltern. Die Überzeugung, solche Kinder seien selbstverständlich intelligenter, hielt und hält sich hartnäckig.
Es gibt doch genetische Unterschiede
Ob Schulleistungen in erster Linie auf genetische Unterschiede oder eher auf Einflüsse der Umwelt zurückzuführen sind, ist eine heiss diskutierte Frage. Was prägt Menschen und macht sie zu denen, die sie sind? Diese «nature-nurture» Debatte flammt immer wieder auf, obwohl wir inzwischen viel über das Zusammenwirken der beiden Komponenten wissen. Beispielsweise hat das blosse Vorhandensein von Genen noch keinen kausalen Einfluss auf die Entwicklung. Richtig ist, dass manche genetischen Anlagen durch Veränderungen der Umwelt und der Bezugspersonen beeinflusst werden können. Folgt man Marcus Hasselhorn und Kollegen**, gibt es eine gemeinsame Verhaltenswirksamkeit von Anlage und Umwelt, weshalb sie nur in ihrer Interaktion verstanden werden können.
Warum diese Debatte nicht totzukriegen ist, hat viel mit der weltanschaulichen, religiösen und gesellschaftlichen Aufladung des Themas und den unterschiedlichen Wertvorstellungen zu tun. Allerdings konnten und können die Pisa-Studien die Wogen mit dem Nachweis etwas glätten, dass das Ausmass der Leistungsunterschiede im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich ist und diese somit nicht lediglich mit den Genen erklärt werden können. Dass gerade in der Schweiz (und auch in Deutschland sowie Österreich) die Leistungen der Kinder aus einfach gestellten Familien im Gegensatz zu den Leistungen der Kinder aus gut situierten Elternhäusern durchschnittlich schlechter sind, dürften sich somit kaum mit dem Hinweis auf ein Naturgesetz beantworten lassen.
Jedes Individuum ist ein Konglomerat genetischer Anlagen, umweltbedingter Einflussfaktoren und dem, was es selbst aus sich macht. Somit müsste uns eher die Frage beschäftigen: Wie geht unsere Gesellschaft mit solchen Unterschieden um? Wie sollten die familiären und schulischen Bedingungen sein, damit sich das genetisch angelegte Potenzial überhaupt in Interaktion mit den Lernumwelten entwickeln kann? Erst dadurch, wie Kinder von ihrer Umgebung und der Gesellschaft beeinflusst werden, prägen sich unterschiedliche Veranlagungen in Gegenwart und Zukunft aus – oder eben nicht.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Unterschwellig ist den meisten Menschen bewusst, dass unsere Gesellschaft Bildungsungerechtigkeiten (re-)produziert. Das dürfte einer der Hauptgründe sein, warum an bildungspolitischen Apéros dieses Thema so beliebt ist. Auffallend schnell wird die Metapher «Jeder ist seines Glückes Schmid» herangezogen. Damit will man versichern, junge Menschen aus bescheidenen Verhältnissen könnten es mit genug Fleiss, Anstrengung und Hartnäckigkeit selbstverständlich zu etwas bringen. Aufstieg durch Bildung heisst die Formel, die oft mit dem American Dream gleichgesetzt wird, der den Entschlossenen den Weg nach oben weist.
Doch diese Metapher ist ein ideologisches Konstrukt. Sie will krampfhaft damit überzeugen, es entscheide allein der individuelle Ehrgeiz über den Berufserfolg, und dieser sei das Ergebnis des Willens. Unerwähnt bleibt, wie systemimmanente Prozesse wie Herkunft, Ressourcen der Familie oder ungerechte Zensurengebung solche Prozesse beeinflussen.
Weil das Sprichwort »Jeder ist seines Glückes Schmied« die Situation verfälscht, wirkt der ihm innewohnende Sinn umso dramatischer. Treffender wäre die Metapher «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm». Denn Kinder verhalten sich – zumindest bis zur Adoleszenz – meist ähnlich wie ihre Eltern und interessieren sich für die gleichen Dinge. Ein Apfel, der aus den Ästen seines Apfelbaums zu Boden fällt, wird kaum weit vom Baumstamm entfernt zu finden sein – allerdings mit Ausnahmen: begabte junge Menschen, denen der Bildungsaufstieg tatsächlich gelingt.
Die schön geredete Chancengleichheit
Akademische Bildung ist nach wie vor ein herkunftsbezogenes Privileg. Das ist in allen deutschsprachigen Staaten so. Trotz des hehren Ideals der Chancengleichheit fällt vielen die Anerkennung der empirischen Tatsache schwer, wonach Bildung immer noch überdurchschnittlich stark vererbt wird. Und manche bleiben auch mehrheitlich blind für die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse. Warum? Das fragt sich auch der Moralphilosoph Michael Sandel***. Seine Antwort ist, dass das Mantra «Wer hart arbeitet, kann alles erreichen» Bildungsbenachteiligte glauben lasse, jede Person habe genau das, was sie verdiene. Im Umkehrschluss seien diejenigen, die am Bildungssystem scheitern, selbst schuld.
Auch die Bildungspolitik pflegt solche Mantras als Legitimationsmuster. Erstens ist es der beliebte Verweis auf die besondere Durchlässigkeit unserer Bildungssysteme. Wer es nicht ans Gymnasium schaffe, könne später trotzdem ein Hochschulstudium absolvieren. Zweitens ist die Überzeugung verbreitet, Kinder aus einfach gestellten Familien seien in der Sekundarschule (Deutschland: Realschule; Österreich: Neue Mittelschule) besser aufgehoben, weil sie von Vätern und Müttern kaum Hilfe erwarten können. Beide Hinweise sind zwar wichtig, die damit verbundenen Legitimationsmuster jedoch falsch.
Zwei falsche Legitimationsmuster
Mit einer Berufslehre und einer Berufsmaturität (Deutschland: Fachabitur) wird ein Studium an einer Fachhochschule möglich, so das erste Muster. Tatsächlich ist es der Ausbildungskönigsweg für junge Menschen aus durchschnittlichen Verhältnissen geworden. Und diese wichtige Form von Durchlässigkeit hat auch teilweise zum Abbau der sozialen Ungleichheit beim Hochschulzugang beigetragen. Währendem an Universitäten nur eine von fünf Personen aus bescheidenen Verhältnissen studiert, sind es an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen immerhin ein gutes Drittel****. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, doch darf sie nicht schöngeredet werden.
Es kann nicht sein, dass diese Durchlässigkeit als Alibi benutzt wird, intellektuell begabte Arbeiterkinder in die Berufsbildung mit dem Hinweis auf die Möglichkeit eines späteren Hochschulstudiums abzudrängen, währendem Söhne und Töchter aus Akademikerfamilien unhinterfragt wieder Akademiker und Akademikerinnen werden.
Auch das zweite Legitimationsmuster hat seine argumentativen Lücken. Es setzt zu sehr auf die Erwartung, Väter und Mütter müssten mithelfen, die schulischen Lernleistungen ihrer Kinder zu festigen. Deshalb sollten sie eine fördernde und vor allem «verantwortete Elternschaft» pflegen. Dem widersprechen die meisten Untersuchungen der frühkindlichen Bildungsforschung. Sie weisen nach, wie sehr sich Kinder bereits beim Eintritt in den Bildungsraum unterscheiden und einen bemerkenswert unterschiedlichen Rucksack an Startkapital und familiären Unterstützungsmöglichkeiten mit sich bringen. Auf dieser Basis werden sie während ihrer Schullaufbahn entsprechend ihrer sozialen Herkunft sortiert. Arbeiterkinder werden in die Sekundar- resp. Realschule (Schweiz), die Haupt- bzw. Neue Mittelschule (Österreich) oder in die Hauptschule respektive Realschule (Deutschland) gelenkt, währendem Akademikerkinder in der Regel fürs Gymnasium empfohlen werden.
Das Ziel muss Chancengerechtigkeit sein
Wer hart arbeitet, kann alles erreichen. Diese Metapher stimmt so nicht. Unsere Gesellschaft ist ziemlich weit davon entfernt, chancengerecht geworden zu sein. Mit Blick auf das Gymnasium müsste es eine Bildungsinstitution für intellektuell begabte junge Menschen jeglicher Herkunft werden. Deshalb sollte unsere Gesellschaft das Ziel der Chancengerechtigkeit verfolgen, definiert als die Ermöglichung und Unterstützung fairer Chancen bei der Überwindung von Nachteilen und die Ausrichtung auf die Entdeckung von Potenzialen.
Wer sich an einem solchen Verständnis von Bildungsgerechtigkeit orientiert, bekennt sich dazu, dass soziale Selektivität kein unabänderliches Schicksal ist.
Literatur
*Terman, L. & Oden, N. (1959). The gifted child group at midlife. Genetic studies of genius, Vol. V, Palo Alto: Stanford University Press.
**Hasselhorn, M. et al. (2008). Kindheit und das Verständnis von Aufwachsen. In W. Thole et al. (Hrsg.), Bildung und Kindheit (S. 49-64). Opladen: Budrich.
***Sandel, M. (2020). Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreisst. Frankfurt: Fischer.
****Stamm, M. (2016). Arbeiterkinder an die Hochschulen. Bern: Forschungsinstitut Swiss Education.