Von der Vorschule bis zur Hochschule steht seit geraumer Zeit das Potenzial von Migrantinnen und Migranten auf der Agenda der Bildungspolitik. Recht so! Denn es hat lange genug gedauert, bis man vom negativ besetzten Bild «der» Migranten weggekommen ist. Trotzdem hat der verstärkte Fokus auf sie leider dazu geführt, dass eine genauso wichtige Gruppe fast vergessen worden ist: die einheimischen Arbeiterkinder. Ähnlich wie dies bei benachteiligten Migrantenkindern der Fall ist, schaffen es viel zu wenige von ihnen an die Universität. Welches sind die Hintergründe?
Noch vor 40 Jahren hatte unsere Gesellschaft im Anschluss an Ralf Dahrendorf (1965*) das grosse Ziel, «Bildung als Bürgerrecht» zu verwirklichen und jedem Kind – auch den Mädchen, denen vom Land, den katholischen und den Arbeiterkindern («das katholische Arbeitermädchen vom Lande»**) – zu einer ihrer Begabung entsprechenden Ausbildung zu verhelfen. Die «Ausschöpfung der Begabungsreserven***» wurde zum erklärten Ziel der Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre.
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Begabungsreserven tatsächlich ausgenützt wurden. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Zustrom zu den Gymnasien und Universitäten deutlich verstärkt und das Bildungsniveau insgesamt ansteigen lassen. Leider betrifft diese Entwicklung vor allem Kinder aus bildungsnahen Familien. Kinder mit Eltern, die studiert haben, gehen zu 88% ebenfalls an die Universität. Aus Arbeiterfamilien schafft es hingegen nur etwa jeder vierte Jugendliche (24%). Diese Quote hat sich seit den 1970er Jahren lediglich um etwa 10% erhöht****.
Der Zugang zu den Schweizer Universitäten – ich spreche nicht von den Fachhochschulen, an denen die Situation leicht besser aussieht – ist somit immer noch selektiv. Dafür gibt es verschiedene Gründe, von denen drei als besonders wichtig sind:
Soziale Herkunft beeinflusst Leistung: Studien wie PISA, IGLU und wie sie alle heissen, haben deutlich gemacht, dass Kinder aus einfachen Verhältnissen bei gleichen kognitiven Fähigkeiten signifikant (etwa 3.8 mal) tiefere Chancen haben, aufs Gymnasium zu kommen als Kinder aus hohen Sozialschichten. Dies gilt auch für hochbegabte Kinder.
Skepsis der Eltern: Die Entscheidungen der Eltern bei der Berufswahl differieren nach Sozialschicht. Während solche aus hohen Sozialschichten eine grosse Bildungsmotivation haben und sich schon ca. in der vierten Klasse fürs Gymnasium und den akademischen Bildungsweg entscheiden*****, sind Eltern unterer Sozialschichten trotz gleicher Schulleistungen ihrer Kinder dem Gymnasium gegenüber sehr skeptisch eingestellt. Die akademische Welt ist für sie fremd, weshalb sie von den erwarteten Kosten zurückschrecken, aber gleichzeitig den frühen Lohn des Nachwuchses in der Berufslehre besonders stark gewichten. Viele von ihnen sind auch überzeugt davon, dass junge Menschen, die studieren, nicht wissen, was arbeiten heisst.
Sich vom eigenen Milieu distanzieren: Arbeiterkinder können weder intellektuell noch strategisch von ihren Eltern Hilfe bekommen, weil diese die akademische Welt nicht kennen und Bildung, Intellekt und geistige Interessen nicht selten kaum wertschätzen. Das ist eine grosse psychische Herausforderung für die Kinder, weshalb sie sich oft und schmerzhaft von der Herkunftsfamilie distanzieren.
Haben Arbeiterkinder all diese Hürden überwunden und landen sie trotzdem an der Uni, dann können sie sich endlich bewähren. Sie sind nämlich ebenso gut wie die besser situierten Kinder und brechen auch nicht häufiger das Studium ab. Dies ist alles andere als selbstverständlich, denn Arbeiterkinder müssen an der Universität eine für sie vollkommen neue Welt auf eigene Faust erobern und deshalb im Hörsaal und den Seminarien enorm viel Selbstbewusstsein respektive Selbstvertrauen unter Beweis stellen.
Ihre Väter und Mütter waren mit Sicherheit nicht an Veranstaltungen, wie sie nun zunehmend für Eltern von angehenden Studierenden organisiert werden. Veranstaltungen wie die an der Universität Basel «Uni für Eltern ******», werden fast ausschliesslich von Eltern besucht, die selbst auch einen akademischen Bildungshintergrund haben. Ihnen wird hier erklärt, was Studieren bedeutet und wie sie ihre Kinder unterstützen können. Eigentlich ist dies paradox, denn solche Eltern wissen ja eigentlich bereits, wie es geht, währendem Arbeitereltern auf solche Informationen grundsätzlich angewiesen wären, aber logischerweise sich gar nicht an eine Universität getrauen.
Es erstaunt deshalb kaum, dass sich viele Arbeiterkinder an der Uni deplatziert vorkommen und alle um sich herum als viel wissender empfinden. Viele von ihnen haben Mütter, die ungelernt und Väter, die Maurer, Bodenleger oder Briefträger sind und keine Ahnung haben, was eine «Universität» überhaupt ist und wie es dort zu und her geht. Ihre Eltern können ihnen aber nicht nur keinen akademischen Rat mit auf den Weg geben, sondern auch keine oder zu wenig Finanzen. Zwei von drei Studierenden aus einem Arbeitermilieu müssen deshalb neben dem Studium zwingend Geld verdienen, währendem dies nur für eine von drei Personen aus gut situierten Elternhäusern der Fall ist.
Eine der Hauptschwierigkeiten von Arbeiterkindern an der Universität besteht jedoch – wie bereits angetönt – darin, dass sie einen Spagat vollziehen müssen zwischen den unterschiedlichen Welten, in denen sie leben. Während sie zu Hause eine vollkommen andere Tradition erleben, die Eltern sich kaum vorstellen können, was sie denn an der Uni überhaupt machen und sie deshalb zu Hause auch kaum etwas von ihrem Uni-Alltag erzählen, haben sie gleichzeitig Hemmungen, ihren Kommilitonen zu sagen, wo sie herkommen. Wenn sie erzählen, dass ihre Mutter nur acht Jahre die Schule besucht hat und der Vater in der Fabrik arbeitet, dann fühlen sie sich oft wie von einem anderen Stern. Denn viele der bildungsnahen Studierenden haben noch nie vorher mit Arbeiterkindern engeren Kontakt gehabt.
Es ist deshalb ausgesprochen wichtig, dass sich die Bildungspolitik mit ihren Anstrengungen nicht ausschliesslich auf junge Migrantinnen und Migranten ausrichtet, sondern ebenso auf unsere einheimischen Arbeiterkinder. Beide Gruppen brauchen sozialen Beistand von aussen, durch Tutoren, Mentees, Unterstützungsprogramme, aber genauso durch engagierte Lehrkräfte, Trainer in Vereinen, Pfarrer etc. Es wäre fatal, wenn Unterstützungsprogramme weiterhin ausschliesslich auf junge Migrantinnen und Migranten ausgerichtet bleiben würden. Sie sind zwar gut gemeint und wichtig, aber enorm selektiv. Unsere Arbeiterkinder sind auf Gleichbehandlung angewiesen.
Literatur
* Dahrendorf, R. (1965). Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen.
** Peisert, H. (1967). Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland. München: Piper.
*** Heller, K. A. (2008). Von der Aktivierung der Begabungsreserven zur Hochbegabtenförderung. Forschungsergebnisse aus vier Dekaden. Berlin: LIT.
**** Stamm, M. (2014a). Minoritäten als Begabungsreserven. In M. Stamm (Hrsg.), Handbuch Talententwicklung. Theorien, Methoden und Praxis in Psychologie und Pädagogik (S. 375-384). Bern: Huber.
***** Stamm, M. (2014b). Nur (k)eine Berufslehre. Eltern als Rekrutierungspool. Dossier 14/4. Bern: Forschungsinstitut Swiss Education.
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