Begabt, aber faul. Das Phänomen der Minderleister

Jeder kennt sie: die Schüler, die trotz hoher Begabung aufgrund schlechter Noten den Übertritt ins Gymnasium nicht schaffen oder keine anspruchsvolle Lehrstelle bekommen, Schülerinnen, die sich ohne Hausaufgaben zu erledigen mit knapp genügenden Noten über die Runden schlängeln oder Erwachsene, die trotz ihrer Begabung wenig anspruchsvolle Berufe ausüben oder gar ihre Ausbildung abbrechen. Und auch in der Fachliteratur werden nicht wenige begabte Menschen beschrieben, die in der Schule mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatten, dann jedoch ausgesprochen erfolgreiche Erwachsene wurden. In der Wissenschaft nennt man solche Menschen Minderleister. Das sind solche, die eine grosse Diskrepanz zwischen ihren intellektuellen Fähigkeiten und den tatsächlichen Leistungen zeigen.

Wer aber sind sie tatsächlich, diese Minderleister und was steckt hinter ihnen? Schon ein kurzer Blick in die Forschungsliteratur genügt, um zu erkennen, dass die Thematik kompliziert ist. Die Gründe für Minderleistung sind vielschichtig, und es gibt keinen Einzelfaktor, der sie beschreiben könnte. Dessen ungeachtet besteht vor allem in Erziehungsratgebern eine ausgesprochen deutliche Tendenz zu einem überakzentuierten verallgemeinernden Bild des Minderleisters.

Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich jedoch nur so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner als gesicherte Erkenntnis formulieren: Als primäre Ursachen lassen sich in erster Linie ein geringes Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, ein unsystematisches Lern- und Arbeitsverhalten, schlechte Motivation und ein geringes Durchhaltevermögen konstatieren, das häufig mit grosser Schulunlust gepaart ist. Des Weiteren ist die Familie von Minderleistern besonders bedeutsam. Bildungsambitionierte Familien können genauso Minderleister produzieren wie bildungsferne Familien und zwar wie folgt:

  • Bildungsehrgeizige Eltern treiben ihre Kinder nicht selten immer stärker zu Spitzenleistungen an, um sich dann im Lichte ihrer vermeintlich ‚aussergewöhnlichen Talente’ sonnen zu können. Das Resultat ist jedoch häufig nicht das Erwünschte und Erwartete. Statt der erhofften ‚Hochbegabung‘ stellt sich eine Minderleistung ein – als Folge des elterlichen Ehrgeizes.
  • Bildungs(system)ferne Familien: Weder verfügen sie über entsprechende finanzielle Hilfsmittel noch über das erforderliche Interesse an Bildung generell oder über eigene Schulerfahrungen, um ihren Nachwuchs angemessen zu unterstützen. Deshalb erwachsen solchen Kindern oft deutliche Nachteile. Sichtbar wird dies in ihren meist schlechteren Schulleistungen respektive Noten als dies aufgrund ihres Potenzials erwartbar wäre. Kinder aus solchen Familien bilden deshalb wahrscheinlich die grösste Gruppe der Minderleister.

Logischerweise spielen Lehrerinnen und Lehrer eine wichtige Rolle. Denn professionaell agierende Lehrkräfte schalten mit ihrer Unterrichtsorganisation und einer hohen Unterrichtsqualität Minderleistungen massgeblich aus, zumindest können sie diese minimieren. Erkennbar sind solche Lehrerinnen und Lehrer daran, dass sie einen herausfordernden Unterricht erteilen, der sich an den Vorkenntnissen der Schüler orientiert und eine Beurteilungspraxis pflegen, welche auf die individuelle und nicht die soziale Bezugsnorm ausgerichtet ist. Solche Lehrkräfte können auch der Entstehung von Langeweile und damit von Minderleistung massgeblich begegnen. Trotzdem darf die Bedeutung der Schule nicht überschätzt werden, weil Gleichaltrige einen ebenso starken Einfluss ausüben. Probleme entstehen insbesondere dort, wo sich Minderleister eine ähnlich gesinnte Peer Group suchen, in der die Demonstration von Schuldistanz als statusfördernd gilt, aussergewöhnliche Leistungen jedoch verpönt und mit einem Strebervorwurf belegt werden. Was jedoch kann gegen Minderleistung unternommen werden?

Das ist eine schwierige und bislang kaum geklärte Frage. Eine ideale Strategie fehlt. Gleichwohl gibt es zwei Zugangswege, mit je unterschiedlichem Fokus: die Beratung und die instruktionale Intervention.

  • Im ersten Fall wird versucht, diejenigen personalen und familialen Dynamiken zu verändern, die Minderleistung beeinflussen. Solche Beratungsinterventionen versuchen deshalb primär, alle Aufmerksamkeit vom Negativen, von den blockierenden Gewohnheiten und Verhaltensmerkmalen wegzulenken und die verborgenen Wachstumskräfte freizulegen. Dies geschieht über die Stärkung des Selbstkonzepts, den Umgang mit Erfolg und Misserfolg oder die Aneignung von Arbeits- und Lerntechniken.
  • Anders die Instruktionsinterventionen, die auf unterrichtliche Settings fokussieren. Sie setzen auf alternative Lernumgebungen mit unkonventionellen Unterrichtsmethoden, wenig Führungsanteilen der Lehrperson und auf ein hohes Mass an Selbstkontrolle bei gleichzeitig niedrigem Ausmass an evaluativen Fremdkontrollen. Einer der zentralen Effekte ist dabei das Verhältnis von Emotion und Lernen. Oft geht es dabei darum, Strategien der gelernten Hilflosigkeit zu bekämpfen. Solche Strategien basieren auf der Überzeugung, dass ihr eigenes Handeln keinen Einfluss auf das hat, was mit einem selbst geschieht. Deshalb finden sich viele Minderleister damit ab. Um solche Verhaltensmuster zu verändern, sind so genannte Reattributionstrainings bislang mit Erfolg eingesetzt worden,

Das Phänomen der Minderleistung wirft viele Fragen auf, die auf unserer Verpflichtung basieren, jedem Menschen zur Entfaltung seines Potenzials zu verhelfen. Ziel sollte es sein, dass alle Schüler Leistungen erreichen können, die ihrem Potenzial entsprechen. Allerdings ist diese Aussage nicht über jeden Zweifel erhaben, denn sie ist auch mit ethischen Fragen verknüpft: Warum ist es eigentlich so wichtig in unserer Gesellschaft, das Potenzial auszuschöpfen? Sollen Schülerinnen und Schüler tatsächlich bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit unterrichtet werden? Und, garantiert ein ausgeschöpftes Leistungspotenzial dann auch eine Leistungssteigerung und einen gesellschaftlichen Gewinn, also berufliche Chancen, persönliche Befriedigung und soziale Einbettung? Sicher nicht. Denn die Folgen der Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte haben uns exemplarisch aufgezeigt, dass ein ausgeschöpftes Leistungspotenzial weder eine Garantie für die Teilnahme an der Verteilung der Arbeitsplätze ist noch den persönlichen Erfolg sichert.

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