Darf man an einer Trauerfeier simsen? Über die Schattenseiten von Social Media

Kürzlich war ich an einer ergreifenden Trauerfeier einer mir nahe stehenden Person. Irritiert hat mich dabei, dass in der Kirche sowohl zur Linken als auch zur Rechten verschiedentlich das Smartphone gezückt wurde, offenbar um SMS zu verschicken. Fast zur selben Zeit hat der Medienwissenschaftler Philippe Wampfler einen Blog zu Smartphone-süchtigen Müttern* veröffentlicht, als Replik auf einen Mama-Blog im Tagesanzeiger. Sein differenzierter Beitrag kommt zum Schluss, Mütter würden zu Unrecht kritisiert, dass die Nutzung von Handys von sozial wichtigen Aktivitäten – u.a. der Kommunikation mit den Kindern – ablenken würde. Er verweist zu Recht darauf, dass das Leben der Mütter heute komplexer sei und Zeit zu haben für viele einen Luxus bedeute. Deshalb sei die digitale Kommunikation oft eine effizientere und deshalb ein Muss für diejenigen, welche sich nicht leisten könnten, mit Freunden einen Kaffee trinken zu gehen.

Meiner Ansicht nach ist auch seine Überzeugung richtig, wonach es falsch sei, einer Welt nachzutrauern, die früher ein Paradies gewesen sei und «durch die Smartphones leider zerstört» werde. Gleichwohl möchte ich auf die Schattenseiten neuer Technologien verweisen. Eine davon ist, dass das Gespräch auszusterben droht – und damit auch Fähigkeiten wie ruhig dasitzen, sich auf jemanden fokussieren und dieser Person zuhören können. In letzter Zeit komme ich immer mehr zum Schluss, dass uns Social Medias auch dahin führen können, wo wir eigentlich gar nicht hin möchten.

Selbstverständlich erliege ich auch dem kleinen Ding in der Hand, genannt Smartphone. Psychologisch gesehen ist es wahrscheinlich das Mächtigste, was uns in den letzten Jahren begegnet ist. Smartphones verändern nicht nur, was wir miteinander tun, sondern auch, wie wir miteinander umgehen und wer wir sind. Sherry Turkle** sagt in ihrem lesenswerten Buch «Verloren unter 100 Freunden», wir würden uns daran gewöhnen, zusammen allein zu sein.

Descartes hat gesagt: «Ich denke, also bin ich.» Heute gilt: «Ich teile mich mit, also bin ich.» Das betrifft sowohl die jungen als auch die älteren Generationen. Wenn wir nicht in ständigem Kontakt mit anderen sind, spüren wir uns nicht mehr. Deshalb suchen wir noch mehr Kontakt. Wahrscheinlich liegt das eigentliche Problem jedoch darin, dass wir alle an der Fähigkeit zum Alleinsein kranken. Erst diese Fähigkeit ermöglicht, uns selbst zu finden und eine Bindung zu anderen Menschen aufzubauen. Unsere Gesellschaft empfindet Alleinsein jedoch als Verarmung. Das zeigt sich bereits dann, wenn wir unser Smartphone verloren haben. Dann fühlen wir uns so, als ob jemand gestorben sei. Das Alleinsein wäre jedoch nötig für unsere Entwicklung. C.G. Jung hat dies mit der Bedeutung der Imagination umschrieben***.

Ein weiteres Problem ist, dass für viele Kinder und Jugendlichen das Smartphone der Eltern zum Konkurrenten geworden ist. Eltern, die dauernd auf ihr Smartphone starren, auch beim Stillen, Windeln wechseln, beim Kinderarzt oder am Elternabend, und auch nicht aufblicken, wenn die Kinder von der Schule kommen, sind alles andere als ein Vorbild für ihren Nachwuchs. Wir alle wollen sozial kompetent sein, und vor allem wollen wir, dass dies auch für unsere Kinder gilt. Sie sollen selbstreflexiv werden, lernen, Konflikte zu lösen oder sich in einer Gruppe zu integrieren. Dann gibt es aber eben nur eine Lösung: einen etwas anderen Umgang mit Social Media bitte!

Um keine Missverständnisse zu provozieren: Ich unterstütze Social Media sehr. Aber ich plädiere für einen pädagogisch wertvollen Umgang damit. Das heisst unter anderem: Social Media darf die direkte und ungestörte Konzentration auf das Gegenüber, das Gespräch mit ihm, auf keinen Fall verdrängen. Ein Kind lernt nur in dieser direkten Begegnung, und die wichtigste Fähigkeit ist die zur Selbstreflexion. Sie ist das Fundament für eine gute Entwicklung.

Natürlich weiss auch ich, dass das, was wir für das Gespräch brauchen würden, oft fehlt: Die Stille des Denkens, das Vergnügen, einem Text, einem Gedanken oder einer Erwiderung zu folgen. Überall geht es Schlag auf Schlag, in jeder Power Point Präsentation, in jeder Vorlesung kommt eine Folie nach der anderen. Auch meine besten Studenten und Doktoranden sind heute Multitasker, die vieles gleichzeitig auf mehreren Kanälen erledigen, schnell und sehr präsent. Dabei sind sie oft überzeugt, dass dies besonders gut sei. Das Gegenteil trifft zu! Und zwar deshalb, weil sie sich nur noch sehr schwer auf eine Sache konzentrieren können. Dass junge Menschen schlechter schreiben als früher, ist inzwischen fast pädagogische Folklore. Aber was mehr zählt ist, dass ihnen oft die Beharrlichkeit fehlt, eine Idee, einen Auftrag bis zum Schluss durchzudenken und dabei die Rückmeldungen des Gegenübers bewusst und präzise aufzunehmen.

Vor allem aber vergessen wir in der ganzen Pro- und Contra-Diskussion eines: Eltern und Erwachsene – auch Professoren! – sind mit ihrem Verhalten geradezu Vorbilder. Wer sich in Social Medias vergafft und Zuwendung, Präsenz und Feedback nur noch unter «ferner liefen» leisten kann, der läuft Gefahr, dem Nachwuchs nicht das zu geben, was er eigentlich braucht: Kinder und Jugendliche möchten Erwachsene als Vorbilder, die sich nicht so sehr wie sie selbst von den Technologien verführen lassen und die Abstand nehmen können.

Was wäre zu tun? Wie Philippe Wampfler schreibt, ist das Paradies passé. Es ist somit grundsätzlich schwierig, jenseits von einhelliger Ablehnung respektive kritikloser Zustimmung eine Lösung zu finden. Grundsätzlich muss man mutig sein. Meinen Studierenden sage ich jeweils vor der ersten Vorlesung oder dem ersten Seminar, dass ich Gedanken formuliere, die ihre Rückmeldungen erwünschen. Deshalb sollen sie IPads, Internet, Twitter etc. nicht nutzen. Vielmehr sollen sie handschriftliche Notizen machen, denn auf diesem Weg bleibt mehr hängen. Das funktioniert relativ gut. Ähnlich würde ich Eltern empfehlen, «geschützte Zonen» einzurichten, in denen der Nichtgebrauch von Social Media zur gemeinsam festgelegten Regel wird und das Gespräch an erster Stelle steht. Bei den Mahlzeiten, überhaupt in Küche und Esszimmer, sollte dies gelten. Oder am Sonntag vereinbart man, eine Stunde zusammenzusitzen, ohne dass jeder gleich mit dem Smartphone in sein Zimmer verschwindet.

 

Literatur

*http://schulesocialmedia.com/2014/05/05/smartphone-suchtige-mutter/

**Turkle, S. (2012). Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern. München: Riemann.

***Hierzu auf Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=7GUJOIM7KUk

Weg von der Uni! Wie man zum Studienabbrecher wird
Lerndoping vom Elternhaus
 

Kommentare 1

Gäste - Andreas Maurer (website) am Montag, 02. Juni 2014 11:18

Ja, es zeigt sich immer deutlicher: Das Internet und die Social Media verändern unser Leben grundlegend – und zwar mit negativen wie auch positiven Folgen. Das versuche ich unter dem Titel „I like, also bin ich“ hier zu beschreiben: http://www.andreasmaurer.ch/index.php?page=i-like-also-bin-ich

Ja, es zeigt sich immer deutlicher: Das Internet und die Social Media verändern unser Leben grundlegend – und zwar mit negativen wie auch positiven Folgen. Das versuche ich unter dem Titel „I like, also bin ich“ hier zu beschreiben: http://www.andreasmaurer.ch/index.php?page=i-like-also-bin-ich
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